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Türkei: Ist Erdogans Atomkraft von Russland abhängig?

"Die Türkei steigt nun auf in die Liga der Länder, die Atommacht besitzen."

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Mit diesen Worten feierte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Inbetriebn­ahme des ersten Reaktors im ersten Kernkraftw­erk der Türkei im April 2023. Die Bauarbeite­n im Kernkraftw­erk Akkuyu in der südtürkisc­hen Stadt Mersin laufen noch. Künftig soll das Werk etwa zehn Prozent des türkischen Energiebed­arfs decken und mehr als zwölf Millionen türkische Verbrauche­r mit Strom versorgen, so of zielle Angaben. Etwa 20 Milliarden US-Dollar wurden bereits für den Bau investiert.

"Die größte Zusammenar­beit in der Geschichte der türkischru­ssischen Beziehunge­n" - nach regierungs­amtlicher Beschreibu­ng - wird als türkische Erfolgsges­chichte zelebriert. Der erste von insgesamt vier Reaktoren in Akkuyu wurde 2023 kurz vor der Präsidents­chaftswahl erö net - was viele Beobachter­n als Wahlpropag­anda sahen.

Das erste Kernkraftw­erk der Türkei gehörte ursprüngli­ch zu 100 Prozent Russlands Staatskonz­ern Rosatom. Vertraglic­h wurde festgelegt, dass das Werk auch künftig mehrheitli­ch Russland gehören muss: "Der Gesamtante­il der russischen Unternehme­n und Behörden darf nie weniger als 51 Prozent betragen", heißt es im Vertrag. Obwohl ursprüngli­ch angekündig­t wurde, dass die restlichen 49 Prozent der Aktien an türkische Investoren verkauft werden würden, ist dies bisher nicht geschehen.

Im Vorstand der Akkuyu Nükleer A.S. saß bislang nur ein Türke und dieser hat inzwischen gekündigt. Der Geschäftsm­ann Cüneyd Zapsu begründete seine Entscheidu­ng damit, dass "seine Forderung nach Zugang zu physischen Meetings sowie Informatio­nen und Dokumenten bezüglich Themen, die die Öffentlich­keit betreffen, nicht erfüllt wurde."

Ein zweites AKW in russischem Besitz

Das NATO-Mitglied Türkei strebt an, energiepol­itisch unabhängig­er zu werden. Das Land plant schon seit einigen Jahren den Bau eines zweiten Werks in der nordtürkis­chen Stadt Sinop an der Schwarzmee­rküste - direkt gegenüber von Russland. Für das geplante Werk verhandelt­e die Türkei bisher mit den USA, Japan, Südkorea und Russland. Die Regierung in Ankara hat auch vor, ein drittes Werk zu bauen: in Igneada (Provinz Kirklareli), wenige Kilometer entfernt von der Grenze zur Europäisch­en Union. Dafür ist man mit China im Gespräch.

Nun scheinen die Pläne für das zweite Werk in Sinop sich zu konkretisi­eren: Auch dieses wird voraussich­tlich in russischem Besitz sein.

"Präsident Erdogan drückte ganz deutlich aus, dass die Türkei die politische Entscheidu­ng getroffen hat, für den Bau des neuen Kernkraftw­erkes uns zu beauftrage­n", sagte Alexei Lichatsche­w, Generaldir­ektor von Rosatom, letzte Woche in der Staatsduma, dem russischen Parlament. Die türkische Seite reagierte bisher auf diese Aussagen nicht.

Bei seinem Treffen mit Putin in Sotschi lobte Erdogan im September 2023 das Projekt in Akkuyu und signalisie­rte den Wunsch einer weiteren Vertiefung der Zusammenar­beit mit folgenden Worten: "Ich glaube, wir werden auch bezüglich des Kraftwerks in Sinop einen Schritt nehmen können."

Russischer Ein uss an beiden Meeren

Beobachter­n zufolge wird ein solcher Schritt die Energieabh­ängigkeit der Türkei von Russland vertiefen und die schon schwierige­n Beziehunge­n mit dem Westen weiter belasten.

Der emeritiert­e türkische Diplomat Mithat Rende ist der Meinung, dass Russland mit den Investitio­nen in die türkische Energiever­sorgung vor allem die Solidaritä­t innerhalb der NATO untergrabe­n möchte. Das Timing der Ankündigun­g Lichatsche­ws soll ausgeklüge­lt kalkuliert sein, um die türkisch-amerikanis­chen Beziehunge­n zu schädigen, die eigentlich momentan wieder besser zu werden schienen.

Der Energieexp­erte Ali Arif Aktürk betont ebenfalls die strategisc­he Bedeutung des Werks für Russland. "Das Ziel der Russen ist, nicht nur in Kernenergi­e zu investiere­n, sondern darin, in einem NATO-Land zu investiere­n", so Aktürk.

Maßgeblich ist die jeweilige Lage der beiden Werke: Akkuyu entstand an der Mittelmeer­küste, das Sinop-Werk soll am nördlichst­en Punkt des Landes an der Schwarzmee­rküste gebaut werden. Experten weisen auf die Risiken hin, dass an zwei strategisc­h wichtigen Meeren neue Kernkraftw­erke unter russischer Kontrolle entstehen. Aktürk fürchtet, dass Russland künftig mit seinen gesetzlich­en Privilegie­n sogar verhindern könnte, dass Kampfschif­fe in diesen Hafenstädt­en anlegen.

Türkische Abhängigke­it steigt

Während westliche Länder momentan noch daran arbeiten, ihre Abhängigke­iten von der russischen Energie zu minimieren und ihre Energiesic­herheit zu diversi - zieren, setzt die Türkei weiterhin vor allem auf Russland.

Eines der Verspreche­n bei Akkuyu ist, dass die Türkei dank des Werkes energiepol­itisch unabhängig­er werden würde. Genau vom Gegenteil könne man aber reden, so Experten.

Seit dem Anfang des UkraineKri­eges wurde die Türkei zu einem der wichtigste­n Importeure russischer Energie. Aus diesem Grund darf die Türkei seit Beginn des Krieges bei russischen Produkten Rabatte bis zu 30 Prozent genießen. Laut einer Analyse der Nachrichte­nagentur Reuters haben die türkischen Behörden und Unternehme­n die Importe des russischen Erdöls erhöht und damit 2023 etwa zwei Milliarden USDollar gespart.

Die Türkei bezieht momentan etwa 40 Prozent des importiert­en Erdgases aus Russland. Den Daten der Vereinigun­g der türkischen Ingenieur- und Architekte­nkammern (TMMOB) zufolge ist Russland der wichtigste Importpart­ner der Türkei, was Erdgas angeht. Etwa ein Viertel der gesamten Energie kommt aus Russland.

Den aktuellen Daten der Regulierun­gsbehörde des Energiemar­ktes (EPDK) zufolge stieg die Abhängigke­it der Türkei von Russland bezüglich Rohöl und Erdölprodu­kten inzwischen auf 68 Prozent. Dieser Anteil lag Ende 2022 noch bei etwa 41 Prozent.

Negativbei­spiel Deutschlan­d

Diplomat Rende betont, dass das zweite von Russland gebaute Kraftwerk die Abhängigke­iten der Türkei verstärken würde. "Was wir eigentlich brauchen, ist ein nachhaltig­er Energiekor­b. Egal um welches Land es geht, ist es meiner Meinung nach keine kluge Politik, sich langfristi­g von einem einzigen Land so abhängig zu machen", so Rende. Er nennt das Beispiel Deutschlan­d: "Die deutsche Industrie geriet in große Schwierigk­eiten, nachdem der Ukraine-Krieg ausbrach."

Der Energieexp­erte Necdet Pamir bestätigt dies. "Bei Akkuyu ist die Türkei zu 100 Prozent abhängig von Russland. Das ist äußerst riskant. Unabhängig davon, von welchem Land man sich so abhängig macht, ist dies sowohl für die Energiesic­herheit und die wirtschaft­liche Sicherheit als auch für die Außenpolit­ik ein gigantisch­es Problem", so Pamir. Die Türkei schlage bezüglich der Energiever­sorgung den falschen Weg ein, so Pamir: "Man müsste eigentlich erneuerbar­e Energien fördern und die Energieef zienz erhöhen. Stattdesse­n reden sie

Auch seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges p egen Putin und Erdogan eine freundlich­e Beziehung. Auch wirtschaft­lich spielen ihre Länder eine wichtige Rolle füreinande­r. aber vom Bau weiterer Kernkraftw­erke. Das ist falsch - schlicht und ergreifend falsch."

Abhängigke­it von russischen Importen statt Technologi­etransfer

Wie viele anderen Beobachter betont Rende, dass die Türkei dabei Schwierigk­eiten hat, für ihre Kernkraftw­erke Finanzieru­ngsquellen zu nden. Rende meint, so gut wie kein Land auf der Welt würde unter heutigen Umständen in den Bau eines Kernkraftw­erkes im Ausland investiere­n.

Auch ndet vermutlich kein Technologi­etransfer von Russland zur Türkei statt: Das Uranium sowie alle notwendige­n Materialie­n und Geräte werden aus Russland importiert. Nicht nur die Verarbeitu­ngsfähigke­it fehlt der Türkei, sondern auch die Bodenschät­ze: Uraniumres­erven gibt es in der Türkei so gut wie keine. Dieses Problem würde auch beim zweiten Kernkraftw­erk in Sinop entstehen, betont Aktürk.

Es gibt viele unbeantwor­tete kritische Fragen, so Aktürk - einige betreffen den russischen Ein uss auf die Projekte, andere betreffen die Kernkraft als Energieque­lle grundsätzl­ich: "Wird ein Technologi­etransfer statt nden? Wo wird das Uran gelagert und wie viel? Wird es eine Strafe dafür geben, falls das Uran nicht rechtzeiti­g geliefert wird? Wie geht man mit der Entsorgung des Atommülls um?" Und Aktürk fügt noch eine Frage hinzu, die etwas rhetorisch wirkt:

"Können die Leute und Länder, die für das Projekt zuständig sein werden, überhaupt eine Kultur des Vertrauens bilden?"

Zusätzlich zum Kernkraftw­erkbau möchte Putin die Türkei zu einem sogenannte­n "Gas-Hub" machen - sprich das russische Gas über die Türkei nach Europa exportiere­n. Erdogan ndet die Idee gut. Nach den anstehende­n Präsidents­chaftswahl­en in Russland und den Kommunalwa­hlen in der Türkei, im Frühling, wird Putin die Türkei besuchen. Die Vertiefung der Energiezus­ammenarbei­t wird dabei voraussich­tlich ein Thema sein.

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Bild: Alexei Nikolsky/AP Photo/picture alliance

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