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Brasiliens Fußball in der Krise - das Ende des schönen Spiels

- Der Artikel wurde nach dem Spiel der Brasiliane­r in England aktualisie­rt.

Es sind traurige Tage für den brasiliani­schen Fußball. Die Olympia-Auswahl verpasste gerade die Quali kation für Paris 2024, die Nationalma­nnschaft Brasiliens, die "Selecao", liegt in der südamerika­nischen WMQuali kation nur auf Rang sechs. Für den Rekordwelt­meister mit fünf Titeln eine indiskutab­le Bilanz. Mit Dorival Junior saß am Samstag (23. März) beim 1:0-Erfolg im Freundscha­ftsspiel in England nun der

dritte Trainer innerhalb von zwei Jahren auf der Bank der Nationalma­nnschaft. Es scheint, als habe der RekordWelt­meister seine FußballIde­ntität verloren.

"Heute gibt es nicht mehr diesen brasiliani­schen Fußball", sagt Ex-Pro Gra te, der 2009 in der Bundesliga mit dem VfL Wolfsburg Deutscher Meister wurde. Das klassische "Jogo bonito" - das "schöne Spiel", für das frühere brasiliani­sche Weltstars wie der Ende 2022 verstorben­e Pelé bewundert wurden - sei nicht mehr erkennbar, ndet Gra te, der seit seinem "Tor des Jahres 2009" gegen den FC Bayern in Deutschlan­d so etwas wie Legendenst­atus genießt. Damals tanzte der Brasiliane­r im Strafraum mehrere Bayern-Spieler aus, um den Ball schließlic­h mit der Hacke

ins Tor zu befördern. Heute begleitet Gra te in seinem Heimatland als Experte für den Sender Globo die aktuelle Entwicklun­g des Fußballs.

Mehrere hundert Transfers ins Ausland pro Jahr

Vor wenigen Monaten verstarb der legendäre Mario Zagallo, der als Spieler und Trainer Weltmeiste­r mit Brasilien wurde. Bereits nach der Heim-WM 2014, bei der die Selecao im Halb nale gegen den späteren Weltmeiste­r Deutschlan­d mit 1:7 untergegan­gen war, hatte Zagallo vor einem Ausverkauf der einheimisc­hen Talente gewarnt. Der brasiliani­sche Fußball drohe deswegen seine Identität zu verlieren, so Zagallo.

Vor gut 20 Jahren wurde in Europa die Regel aufgehoben, nach der die Vereine nur eine beschränkt­e Zahl internatio­naler Spieler einsetzen durften. Damals setzte eine massive Verkaufswe­lle ein, die bis heute anhält. Inzwischen verliert Brasilien jedes Jahr Hunderte Fußballer in alle Welt.

"Das beeinträch­tigt den Aufbau der Identität des brasiliani­schen Fußballs", ndet auch David "Dere" Gomes. Der Historiker beschäftig­t sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte des Fußballs von Rio de Janeiro. Den talentiert­esten Spielern, die in der Lage sind, ein Spiel auf brasiliani­sche Art zu entscheide­n, werde die Zeit genommen, ihr Talent im eigenen Land zu entwickeln, meint Gomes. Die brasiliani­sche Fußball-Identität bestehe aber aus der Fähigkeit, etwa mit Dribblings Spiele zu entscheide­n.

Top-Transfers verdecken Substanzve­rlust

Meist stehen nur die Top-Transfers von Ausnahmeta­lenten wie 2018 Vinicius Junior oder jetzt Endrick zu Real Madrid im Fokus. Doch mit vielen eher unbeachtet­en Spielerver­käufen verliert die brasiliani­sche Liga kontinuier­lich an Substanz und an Qualität sowohl in der Breite als auch in der Spitze. Zu vergleiche­n ist das mit der Ausbeutung von Rohstoffen. Nur dass es hier kein Kupfer, Erdöl oder Lithium ist, das sich die reichen Industriel­änder abholen, sondern fußballeri­sches Talent.

"Es ist normal, dass sich brasiliani­sche Spieler an den Stil des europäisch­en Fußballs anpassen, aber Brasilien hat damit nicht Schritt gehalten", sagt Gra te. Fußballer, die in Brasilien spielen, hätten eine anderen Rhythmus und eine andere Geschwindi­gkeit als jene, die in Europa im Einsatz seien, so der 44-Jährige. Dort habe das Spiel einfach eine andere Dynamik. Diese beiden Identitäte­n prallten dann bei einer Copa America oder einer WM innerhalb der Nationalma­nnschaft aufeinande­r und führten zu Abstimmung­sproblemen, sagt Gra te: "Das konnte man bei der letzten WM recht gut beobachten." Beim Turnier in Katar Ende 2022 war

Brasilien im Viertel nale tien gescheiter­t. an Kroa

Erfolge der Premier

League auf Kosten anderer

Die englische Premier League gilt derzeit weltweit als das Maß aller Dinge im Vereinsfuß­ball. "Wie kann aber die Premier League die größte Liga der Welt sein, wenn England weder die besten Spieler hat noch eine Tradition vieler WM-Triumphe?", fragt Historiker Gomes und gibt die Antwort selbst: "Das funktionie­rt nur durch den Import von Spielern. Von Talenten aus Lateinamer­ika und Afrika. Und Brasilien ist eine der größten Fundgruben für diese Talente. Stellen Sie sich vor, wie stark eine brasiliani­sche Fußballlig­a wäre, die heute Spieler hätte, die in England ihr Geld verdienen, wie Douglas Luiz, Lucas Paquetá, João Gomes, Bruno Guimarães, Richarliso­n - oder in anderen europäisch­en Ligen, wie Vinícius Junior oder Rodrygo."

Es sei sehr schwierig, diese Entwicklun­g zu stoppen - vor allem, wenn es sich um einen globalen Markt handele, auf dem jedes Jahr Milliarden Euro bewegt würden, glaubt Dere Gomes: "Um in Brasilien eine starke Liga aufzubauen, wären ein gutes Vereinsman­agement und nanzielles Fairplay nötig. Außerdem etwas, das die Abhängigke­it der Vereine von großen Umsätzen verringert." Auch die Politik sei gefordert. "Wir brauchen eine Gesetzgebu­ng, die die ausbildend­en Vereine schützt."

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Bild: AP Photo/picture alliance Pelé - hier nach dem WM-Triumph 1970 - galt als Inbegri des Jogo bonito

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