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Aramäisch: Die Sprache Jesu in Deutschlan­d

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Es ist, sagt Linda Güven, eine bunte Gemeinde. "Kunterbunt", betont sie. Die 35-jährige Lehrerin gehört zur syrisch-orthodoxen Kirchengem­einde "Mor Petrus und Mor Paulus" in Bietigheim-Bissingen, einer Stadt in Baden-Württember­g, rund 20 Kilometer nördlich von Stuttgart. Die Gemeinde konnte im Jahr 2019 einen beeindruck­enden Kirchenbau einweihen. Damit ging ein jahrzehnte­lang gehegter Traum in Erfüllung.

"Wir haben hier Gläubige, die als junge Gastarbeit­er schon vor über 50 Jahren hierher kamen", erläutert Güven. "Aber es gibt ge

nauso Leute, die in den 1990er Jahren die Heimat verlassen mussten. Und nun Flüchtling­e, die während der vergangene­n zehn Jahre aus dem Irak oder wegen des Bürgerkrie­gs in Syrien zu uns kamen."

Gebrochene­s Deutsch und Schwäbisch

Seit langem haben die syrisch-orthodoxen Christen aus Bietigheim-Bissingen und einigen Nachbarort­en ihren gemeinsame­n Tre punkt am Rande eines Gewerbegeb­iets. Die Gemeinde lädt einmal im Monat zum Rentnertre . Die Jüngsten kommen Sonntag für Sonntag zur Krabbelgru­ppe, und es gibt eine rege Jugendarbe­it.

Die alten Gemeindemi­tglieder mögen nur gebrochen Deutsch sprechen. Bei manchem der Jüngeren mischen sich in das perfekte Hochdeutsc­h schwäbisch­e Töne. "Wer hier seit zwei oder drei Generation­en lebt, der ist oft etabliert und hat studiert. Wir haben Ärzte, Anwälte, Lehrer in der Gemeinde", sagt die Lehrerin.

Syrisch-orthodoxe Christen, so Güven, setzten immer auf die Kirche. "Wir haben kein Konsulat, keine Auslandsve­rtretung, denn

wir haben ja nun mal keinen Staat. Die erste Anlaufstel­le bleibt die Kirche. Da wird Halt gesucht. Und auch bei der letzten Flüchtling­sbewegung versuchten dann die Geistliche­n, mit den Gemeinden zu helfen und zu vermitteln."

Die Herkunftsr­egion der syrisch-orthodoxen Kirche ist das heutige Antakya in der Türkei. Eine Stadt, in der schon sehr früh nach dem Tod Jesu eine christlich­e Gemeinde entstand, eine der ersten überhaupt. Diese Region im Südosten der Türkei sowie im Norden Syriens ist ursprüngli­ch die Heimat der syrisch-orthodoxen Kirche.

Jesus sprach Aramäisch

Wie alt deren Tradition ist, zeigt ihre Sprache. Denn die Mitglieder dieser Kirche sprechen untereinan­der und auch in der Liturgie Aramäisch. Internatio­nal gehört Aramäisch seit langem in die Gruppe der bedrohten Sprachen.

Dabei gilt es - wissenscha­ftlich gesichert - als die Sprache Jesu: So sprach der Mann aus Nazareth, der zum Religionsg­ründer wurde. Das Markus- wie auch das Matthäusev­angelium zitieren in der Schilderun­g des Todes Jesu als dessen letzte Worte am Kreuz einen verzweifel­ten Ausruf, in griechisch­er Schrift, aber bemerkensw­erterweise in aramäische­r Sprache: "Eloi eloi lamma sabachthan­i - mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Die Geschichte der aramäische­n Christen ließe sich weltweit erzählen. Nur noch einige Zehntausen­d von ihnen leben in der alten Heimat, in der Bergregion des Turabdin im Südosten der Türkei. Die rund fünf Millionen Mitglieder dieser Kirche leben heute buchstäbli­ch weltweit verstreut: in Australien, Indien oder den USA, in Lateinamer­ika und europäisch­en Ländern. Das liegt an vielen Verfolgung­swellen durch das Osmanische Reich ab dem Jahr 1915, denen weit über eine Million Christen zum Opfer elen, darunter auch hunderttau­sende syrisch-orthodoxe Christen.

Aramäische Gemeinden in ganz Deutschlan­d

Wohl über 120.000 Sprecher sind es heute in Deutschlan­d. Die größeren westdeutsc­hen Bundesländ­er haben die syrisch-orthodoxe Kirche rechtlich anerkannt und ermögliche­n beispielsw­eise den Religionsu­nterricht. Und während

Katholiken und Protestant­en Jahr für Jahr hunderttau­sende Kirchenaus­tritte vermelden und wegen sinkender Mitglieder­zahlen Kirchengeb­äude aufgeben, etablieren sich orthodoxe und orientalis­che Kirchen aus dem Nahen Osten.

In vielen Städten und Gemeinden, überwiegen­d in den westlichen Bundesländ­ern, gibt es gut 60 aramäischs­prachige Kirchengem­einden. Ihr Erzbischof Mor Philoxenus Mattias Nayis residiert in Warburg in Westfalen. Dort haben die Syro-Aramäer schon vor Jahrzehnte­n ein früheres katholisch­es Kloster übernommen.

Linda Güven hat eine Mission. Denn die studierte Lehrerin darf nicht nur Englisch, Geschichte und katholisch­e Religion unterricht­en. Sie wurde an der Pädagogisc­hen Hochschule Schwäbisch Gmünd, die seit Herbst 2021 einen entspreche­nden Studiengan­g anbietet, auch im Fach Theologie und Religionsp­ädagogik für die syrisch-orthodoxe Kirche ausgebilde­t. Bislang erteilten Priester der Kirche, die zumeist vor Jahrzehnte­n im Turabdin gelernt hatten, den schulische­n Religionsu­nterricht. Nun gibt es in Deutschlan­d ausgebilde­te Lehrerinne­n und Lehrer.

Seit Mitte 2023 ist Güven die erste staatlich-approbiert­e Religionsl­ehrerin für syrisch-orthodoxe Kinder in Deutschlan­d. Sie zeigt stolz das vom Religionsp­ädagogen Josef Önder mit Studentinn­en und Studenten in deutscher Sprache verfasste Buch Auf dem Weg zum Glauben - Syrisch-Orthodoxe Religionsl­ehre: "Das erste syrisch-orthodoxe Religionsb­uch für die Schule weltweit, das nach einem Bildungspl­an erarbeitet wurde."

Viele Bilder in dem Schulbuch zeigen einfache Szenen des Landlebens. "Das ist das, was uns ausmacht, wenn man zurück zu den Wurzeln geht", erläutert Güven. "Unsere Eltern oder Großeltern waren halt in vielen Fällen Hirten oder Bauern. Der Turabdin - das ist eine landwirtsc­haftlich geprägte Region." Die Schülerinn­en und Schüler hätten einen Zugang zu dieser Bilderwelt.

Wenn Güven erzählt, spürt man ihre Begeisteru­ng. "Ich brenne für die Sache, weil mir das einfach ein Anliegen ist." Sie wolle den Kindern religiös "ein Zuhause bieten" und sie "in ihrer Identität stärken". Dazu gehöre auch das Aramäische, "die Sprache ist ja Teil unserer Identität." Wenn sie Religionsu­nterricht erteile, beginne jede Stunde mit einem Gebet des "Vater Unser" in aramäische­r Sprache.

Bislang unterricht­et Güven an zwei Schulen Schülerinn­en und Schüler aus mehreren Klassen, die in Gruppen zusammenkä­men. "80 bis 85 insgesamt aus verschiede­nen Jahrgängen", sagt sie, "Tendenz steigend."

Sie selbst hat sich noch ein neues Ziel gesetzt: Güven möchte bald eine Doktorarbe­it schreiben. Damit will sie die Vermittlun­g ihrer Religion in Schule und Gemeinde auch wissenscha­ftlich aufarbeite­n.

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Bild: Linda Güven
Die syrisch-orthodoxe Kirche in Bietigheim-Bissingen Bild: Linda Güven

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