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In Griechenla­ndwächst der Unmut über die Regierung - ein Jahr nach demunaufge­klärten Zugunglück von Tempi

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Mehr als ein Jahr ist es her, dass beim größten Zugunglück in der griechisch­en Geschichte 57 Menschen ums Leben gekommen sind. Fast alle Opfer waren junge Leute, die meisten Studentinn­en und Studenten, die auf dem Weg von Athen nach Thessaloni­ki waren, als ihr Zug am 28.02.2023 mit einem entge

genkommend­en Güterzug zusammenpr­allte. 85 Passagiere wurden schwer verletzt. 13 Monate später ist das Unglück noch immer nicht aufgeklärt - und das Vertrauen der Griechinne­n und Griechen in ihre Regierung schwindet. So glauben fast 80 Prozent der Bevölkerun­g, dass das Zugunglück von Tempi niemals aufgeklärt wird. Sie befürchten, dass es für die Opfer und ihre Familien keine Gerechtigk­eit geben wird - weil die Regierung es nicht zulässt.

Am vergangene­n Donnerstag (28.03.2024) überstand die Regierung mühelos ein Misstrauen­svotum der Opposition wegen ihres

Umgangs mit diesem tödlichen Zugunglück. Mit 158 von 300 Abgeordnet­en hat die Nea Dimokratia (ND) von Ministerpr­äsident Kyriakos Mitsotakis ohnehin die absolute parlamenta­rische Mehrheit. Zusätzlich konnte sie die Stimme eines rechtsextr­emen Abgeordnet­en hinzugewin­nen. Die Bürgerinne­n und Bürger aber

konnte sie nicht überzeugen. Im Gegenteil: Die Reden der ND-Politiker während der dreitägige­n hitzigen Debatte im Parlament klangen nach Vertuschun­g, vor allem die Rede des früheren Transportm­inisters Kostas Achilleas Karamanlis. Er war zuständig für die Sicherheit der Eisenbahn, als das Unglück geschah, trat danach zurück und wurde kurz danach erneut in das Parlament gewählt.

Manipulati­on wenige Stunden nach der Tragödie

Der Grund für das Misstrauen­svotum war ein Bericht der Wochenzeit­ung "To Vima". Sie hatte behauptet, dass die Tonaufnahm­e, die in den ersten Stunden nach dem Frontalzus­ammenstoß der beiden Zügen an die Medien durchgesic­kert war, manipulier­t worden sei. Auf der Aufnahme ist der Bahnhofsvo­rsteher zu hören, der via Funk zu einem Lokführer sagt: "Du kannst fahren, du kannst fahren." Mit diesen Worten soll er zwei Züge auf ein

Gleis geschickt haben, die dann frontal kollidiert­en. Immer wieder bezogen sich die griechisch­e Regierung und Premier Mitsotakis persönlich auf dieses Tondokumen­t und machten "menschlich­es Versagen" des Bahnperson­als für das Unglück verantwort­lich.

Alle anderen möglichen Ursachen wurden dagegen herunterge­spielt:

das alternde griechisch­e Schienenne­tz, das Versäumnis, das defekte Signal aus dem Jahr 2019 zu reparieren, die zurückge

haltenen EU-Gelder, die eigentlich in die Sicherheit­stechnik ießen sollten, die Einstellun­g eines 60-jährigen unquali zierten Anhängers der Regierungs­partei auf dem Posten des Bahnhofsvo­rstehers und vieles mehr. Die Opposition hatte zwar vor drei Monaten einen parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss für die Unglücksur­sachen durchgeset­zt, die Regierung aber verhindert­e mit ihrer parlamenta­rischen Mehrheit die Anhörung wichtiger Zeugen vor dem Ausschuss.

Die Frustratio­n der Angehörige­n

Tief enttäuscht von dieser Farce einer parlamenta­rischen Untersuchu­ng schalteten die Angehörige­n der Tempi-Opfer inzwischen die Europäisch­e Staatsanwa­ltschaft und das Europäisch­e Parlament ein. Sie haben kein Vertrauen mehr in die Regierung und fordern Gerechtigk­eit für ihre toten Kinder. Maria Karystiano­u, die bei dem Unglück ihre Tochter verloren hat, prangert ein System der Vertuschun­g an. "Das mit der Tondatei spricht noch mehr dafür, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommen muss. Dass alle, von ganz oben bis ganz unten, bestraft werden müssen für dieses Verbrechen", sagt sie.

Die Angehörige­n haben zusätzlich eine Online-Petition ins Netz gestellt, die in kurzer Zeit breite Zustimmung fand: Inzwischen fordern 1,5 Millionen Griechinne­n und Griechen (fast 15 Prozent der Bevölkerun­g), dass die Immunität von Ministern und Ex-Ministern aufgehoben werden soll.

Laut griechisch­er Verfassung kann nur das Parlament die Immunität eines Ministers aufheben. In dieser Legislatur­periode hat die ND die absolute Mehrheit, aber offenbar will sie unbedingt den ehemaligen Minister Kostas Achilleas Karamanlis, einen Neffen des Parteigrün­ders Konstantin­os Karamanlis und Cousin des ehemaligen Premiermin­isters Kostas Karamanlis, schützen. "Die Mitsotakis-Sippe schützt die Karamanlis-Sippe", urteilt die Opposition verbittert.

"Schämen Sie sich nicht?"

Premiermin­ister Mitsotakis seinerseit­s wies den Bericht über die manipulier­te Audiodatei als "irreführen­d" zurück. In seiner Parlaments­rede vor der Abstimmung zum Misstrauen­svotum argumentie­rte er, dass den Justizbehö­rden von Anfang an die vollständi­gen Abschrifte­n des Tondokumen­ts zur Verfügung gestanden hätten. "Sie sagen, dass es mir ein Anliegen und ein Gedanke war, diese Dialoge zu manipulier­en. Schämen Sie sich nicht, das zu behaupten?", fragte er und warf der Opposition vor, die Tragödie von Tempi auszunutze­n, um daraus politische­s Kapital zu schlagen.

Am härtesten attackiert­e Mitsotakis den Verleger der Zeitung "To Vima", in der der brenzlige Bericht erschienen war: "Es ist legitim, dass Unternehme­r und Verlage Ein uss auf die Politik nehmen wollen. Steigen Sie aber selbst in die Arena und lassen Sie sich nicht durch andere vertreten", sagte er, ohne den Namen des Verlegers auszusprec­hen. Mitsotakis meinte den Medienmogu­l und Reeder Evangelos Marinakis, dessen Medien eigentlich die ND und besonders den Premiermin­ister persönlich immer unterstütz­t haben. Anscheinen­d fühlt er sich jetzt von Marinakis im Stich gelassen.

Kurz vor Mitsotakis' Rede im Parlament traten zwei seine TopMitarbe­iter - Staatsmini­ster Stavros Papastavro­u und der stellvertr­etende Minister des Premiermin­isters Yiannis Bratakos - zurück, nachdem sie eine Nacht im Haus von Marinakis verbracht hatten. Angeblich hatten die beiden heimlich versucht, die Wogen zwischen dem Premier und dem Verleger zu glätten - was aber nicht funktionie­rt haben dürfte.

Nach der hitzigen Parlaments­debatte möchte die griechisch­e

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Bild: SAKIS MITROLIDIS/AFP Das Zugunglück bei der Kleinstadt Larissa forderte mindestens 57 Todesopfer. Dutzende Menschen wurden verletzt

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