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Türkei: Niederlage für Erdogan - Triumph für Opposition

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Eigentlich hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Kommunalwa­hlen ein Ziel gesetzt: Er wollte

Bild: Emin Sansar/Anadolu/picture alliance

die landesweit­e Überlegenh­eit seiner Partei manifestie­ren und die Großstädte, die seine AKP 2019 an die Opposition verloren hatte, zurückzuge­winnen. Doch damit ist der türkische Präsident nun gescheiter­t. Bei den Kommunalwa­hlen konnte seine islamisch-konservati­ve AKP nicht in den Großstädte­n punkten. Außerdem hat sie zahlreiche Provinz-Hauptstädt­e und einige Hochburgen an die sozialdemo­kratische CHP verloren, die größte Opposition­spartei.

Diese liegt nach vorläu gen Zahlen mit 37,76 Prozent landesweit vorn: In 21 Städten und 14 Großstädte­n unter anderem in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Adana und Antalya haben sich die Sozialdemo­kraten der CHP durchgeset­zt.

Die Kommunalwa­hlen waren ein Jahr nach den Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en auch

ein Stimmungst­est für Erdogan, und das Sieg-verwöhnte Staatsober­haupt hat die schlechte Stimmung seiner Bürger zu spüren bekommen. Die AKP kam auf nur

35,48 Prozent. Somit wurde sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte die zweitstärk­ste Kraft im Land.

Wirtschaft war das entscheide­nde Wahlthema

Noch am späten Abend trat der 70-jährige Erdogan vor seine Anhänger, er wirkte ruhiger als sonst. Er lobte die Wahlen als Zeichen der Demokratie, drohte der Opposition nicht. "Leider haben wir nicht die Ergebnisse erzielt, die wir uns gewünscht haben", sagte Erdogan am Sitz seiner AKP in Ankara. Er werde "die Entscheidu­ng der Nation respektier­en".

Seinen Anhängern versprach er die kritische Aufarbeitu­ng des Misserfolg­es. "Was wir uns gewünscht haben, haben wir nicht erreicht" sagte er. Doch sei dies nicht das Ende, sondern nur ein Wendepunkt, um sich neu zu nden.

Die Türkei leidet seit einigen Jahren unter den Folgen von Er

Die ho

dogans Niedrigzin­spolitik. he In ation und der Kaufkraftv­erlust hat die Regierung trotz strik

ter Maßnahmen und Erhöhung der Steuern nicht in den Gri bekommen. Daher haben Wirtschaft­sthemen den Wahlkampf dominiert. "Und genau diese angespannt­e wirtschaft­liche Lage war entscheide­nd für das schlechte Abschneide­n der AKP",

sagt Dr. Salim Cevik, Türkei-Experte bei der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) in Berlin. Bei den Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en vor einem Jahr habe Erdogan noch viele Geschenke gemacht - an die Rentner, Geringverd­iener und die Wirtschaft. "Dieses Mal konnte er sich das bei leeren Staatskass­en nicht mehr leisten, was zu einer Niederlage führte."

Alle Augen auf Istanbul

Um die Großstädte von der Opposition zurückzuge­winnen, hatte der türkische Staatspräs­ident sogar selbst den Wahlkampf angeführt. Die letzten Wochen war er von einer Veranstalt­ung zu nächsten geeilt. Auch seine 17 Minister hatte er durch das ganze Land geschickt - als ob sie selbst auf dem Wahlzettel stünden.

Vor allem ging es Erdogan aber um Istanbul. 20 Prozent aller Beschäftig­ten der Türkei leben dort. Mehr als die Hälfte der landesweit­en Exporte und Importe werden in Istanbul abgefertig­t. Außerdem stehen Istanbul und die Hauptstadt Ankara gemeinsam mit den Städten Izmir, Adana, Mugla und Antalya für fast die Hälfte der Wirtschaft­sleistung des Landes.

Für den türkischen Staatschef hat die 16-Millionen-Metropole Istanbul auch eine symbolisch­e Bedeutung. Von 1994-1998 war er dort selbst Oberbürger­meister. "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt das Land", sagte er damals.

Trotz Mobilisier­ung des gesamten Staatsappa­rates ist es der amtierende­n Regierung nicht gelungen, den Sieg der Opposition zu verhindern. In den drei wichtigste­n Metropolen Ankara, Istanbul und Izmir hat die CHP nach den vorläu gen Endergebni­ssen sogar einen großen Vorsprung; In Izmir sind es zehn Prozent, in Istanbul elf Prozent und in der Hauptstadt sind es momentan etwa 28 Prozent.

Nun hat also Erdogans AKP wieder eine Niederlage gegen den populären Istanbuler Oberbürger­meister Ekrem Imamoglu von der CHP einstecken müssen. "Die Wahl markiert das Ende der demokratis­chen Erosion in der Türkei und das Wiederaufl­eben der Demokratie. Istanbul hat gewonnen", sagte Imamoglu. Beobachter gehen nun davon aus, dass dieser Sieg Imamoglus Chancen erhöht, sich als Erdogans Herausford­erer bei der nächsten Präsidents­chafts-und Parlaments­wahl in Stellung zu bringen.

"Das ist Imamoglus Sieg", betont Politikwis­senschaftl­er Emre Erdogan von der Bilgi Universitä­t. Imamoglu sei es gelungen, in einem gespaltene­n Land sowohl die Wähler der ultranatio­nalistisch­en IYI-Partei als auch die der prokurdisc­hen DEM (ehemals HDP) anzusprech­en und ihre Stimmen auf sich zu vereinen. Das sei Imamoglus Leistung. "Nun können sowohl er als auch der Oberbürger­meister von Ankara, Mansur Yavas, als nächste Präsidents­chaftsanwä­rter gehandelt werden", so Politologe Emre Erdogan. Dennoch sieht Emre Erdogan in diesem Wahldebake­l nicht den Anfang vom Ende der AKP. Die Regierungs­partei sitze noch fest in vielen Ratshäuser­n, und Erdogan habe bis zur nächsten Präsidents­chafts- und Parlaments­wahl 2028 Zeit, seine Basis zu konsolidie­ren.

Imamoglu - Der Politstar

Experten zufolge kann Imamoglu Erdogan aber dennoch gefährlich werden. Genauso wie Erdogan, stammt der 52-Jährige aus der konservati­ven Schwarzmee­rregion. Auch er hat Fußball gespielt, die Koranschul­e besucht und legt, wie Erdogan, großen Wert auf Megaprojek­te. Auch er kann Menschen mobilisier­en, gilt als charismati­sch, authentisc­h und machthungr­ig. Für viele urbane islamisch-Konservati­ve und Nationalis­ten ist er damit eine Option. Aber nicht nur für die: Experten gehen auch davon aus, dass er für Teile der Kurden in den Metropolen infrage käme, weil er nicht polarisier­t.

Für Salim Cevik von der SWP geht aus diesen Kommunalwa­hlen aber noch ein Sieger hervor: Die sogenannte Neue Wohlfahrts­partei von Fatih Erbakan. Er ist der Sohn des Gründers des politische­n Islams in der Türkei, Necmettin Erbakan, bekannt auch für seine Bewegung Milli Görüs. Diese wird in Deutschlan­d vom Verfassung­sschutz beobachtet.

Die Neue Wohlfahrts­partei von Fatih Erbakan ist kein Bündnis mit Erdogan eingegange­n und hatte stattdesse­n eigene Kandidaten aufgestell­t. In zwei Städten haben sie Bürgermeis­terämter gewonnen und haben der AKP damit möglicherw­eise Stimmen abgezogen. "Sobald im konservati­v-nationalis­tischen Spektrum eine Alternativ­e zur AKP auftaucht, kann Erdogans Handlungsr­aum enger werden", sagt Cevik. Der Experte geht davon aus, dass Erdogan in der Zukunft versuchen werde, die Neue Wohlfahrts­partei eng an seine Volksallia­nz zu binden. Doch dafür werde er viele Zugeständn­isse machen müssen.

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Bei seiner traditione­llen Balkonrede räumte der türkische Präsident die Niederlage seiner Partei ein

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