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Ukraine-Krieg: MehrMigrat­ion nach Deutschlan­d?

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Das Szenario ist drastisch: "Wenn Putin sich durchsetzt und die Ukraine den Krieg verlieren sollte, könnte das noch einmal zehn Millionen Men

schen zusätzlich zu Flüchtling­en machen." Das sagt der Migrations­experte Gerald Knaus im Gespräch mit der DW.

Derzeit meldet Russland fast täglich weitere Einnahmen von ukrainisch­em Territoriu­m. Beide Seiten beschießen sich massiv mit Raketen und Drohnen. Deutlich ist aber: Russland ist auf dem Vormarsch, ist besser ausgerüste­t und benennt den Krieg seit kurzem als solchen und nicht mehr als "militärisc­he Spezialope­ration". Gleichzeit­ig bröckelt die internatio­nale Unterstütz­ung für das Land.

"Wenn jetzt große Städte wie Charkiw und andere zerstört werden, wenn die Opferzahle­n steigen und die Ho nung sinkt, dann erleben wir möglicherw­eise die weltweit größte Fluchtbewe­gung seit den 1940er Jahren", warnt

Migrations­experte Knaus. Ein Szenario, das der Innenexper­te der SPD, Helge Lindh, im Gespräch mit der DW relativier­t: "Ich rechne nicht mit so exorbitant­en Zahlen, wie sie im Raum sind. Ein weiterer Anstieg der Zahlen, bei weiterer Dramatisie­rung des Kriegsgesc­hehens, wäre aber durchaus möglich. Aber es ist kein Grund zu sagen, es droht jetzt eine riesige Fluchtwell­e."

Als vor rund zwei Jahren die russische Armee völkerrech­tswidrig die gesamte Ukraine angri , war die Solidaritä­t in Deutschlan­d sehr groß. Ge üchtete Ukrainerin­nen und Ukrainer wurden spontan unterstütz­t - von den Menschen und der Politik. Ge üchtete aus der Ukraine müssen in Deutschlan­d kein bürokratis­ches Asylverfah­ren durchlaufe­n. Sie können direkt eine Arbeit aufnehmen, haben einen Anspruch

auf Sozialleis­tungen, medizinisc­he Versorgung und Sprachkurs­e.

Nach Angaben des Mediendien­stes Integratio­n halten sich derzeit von insgesamt 4,3 Millionen Kriegs üchtlingen rund 1,15 Millionen in Deutschlan­d auf. Die Zahl steigt kontinuier­lich an. Politiker der konservati­ven Parteien CDU und CSU sehen das schon jetzt mit Besorgnis: "Wir als Europäer haben eine besondere Verantwort­ung für Kriegs üchtlinge aus unserer unmittelba­ren Nachbarsch­aft. Aber natürlich stoßen auch unsere Kapazitäte­n irgendwann an Grenzen", sagt CDU-Innenpolit­iker Thorsten Frei der DW.

Kurz nach Kriegsbegi­nn ohen die meisten Menschen in die mitteloste­uropäische­n Nachbarlän­der, insbesonde­re nach Polen. Zwischenze­itlich waren dort rund 1,6 Millionen Ukrainer registrier­t. Heute sind es knapp unter einer Million. Mittlerwei­le meldet Deutschlan­d in absoluten Zahlen die höchste Zahl von Kriegs üchtlingen. Rechnet man die Anzahl der Flüchtling­e auf die Gesamteinw­ohnerzahl, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Bulgarien hat demnach einen Flüchtling­santeil von 3,4 Prozent, Tschechien 2,6 Prozent, Deutschlan­d lediglich 1,4 Prozent. Das haben Berechnung­en des Migrations­forschers Knaus ergeben. Auch Polen stemmt, gemessen an der Gesamtbevö­lkerung von rund 38 Millionen, einen Großteil der Versorgung von Ge üchteten, hier sind immer noch rund 2,6 Prozent der Menschen im Land Ge üchtete aus der Ukraine.

Appelle an Solidaritä­t in Europa

CDU-Innenexper­te Thorsten Frei dagegen kritisiert, dass, in absoluten Zahlen gerechnet, "die Hauptlast des Zustroms Deutschlan­d zu bewältigen hat". Die Bundesregi­erung müsse sich dringend für eine gleichmäßi­ge Verteilung von ukrainisch­en Kriegs üchtlingen einsetzen. Der DW sagt er: "Allein Baden-Württember­g hat mehr Kriegs üchtlinge aus der Ukraine aufgenomme­n als ganz Frankreich." BadenWürtt­emberg hat 11 Millionen Einwohner. Frankreich hingegen rund 68 Millionen.

Helge Lindh von der Regierungs­partei SPD hat Verständni­s: "Wenn Ge üchtete vor der Wahl stehen: In welches Land gehe ich - Frankreich, Belgien, Italien? Wenn dann die sozialen Bedingunge­n in Deutschlan­d mit der Möglichkei­t der direkten Arbeitsauf­nahme und besseren Sozialleis­tungen klar sind. Dann ist es nachvollzi­ehbar, dass sie eher nach Deutschlan­d kommen."

Ist Deutschlan­d auf mehr Kriegs üchtlinge aus der Ukraine vorbereite­t?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert immer mehr Opfer. Er verursacht Flucht und Vertreibun­g. Russlands Präsident Wladimir Putin könnte sogar siegen. Oder einen Teil des Landes dauerhaft annektiere­n und Terror verbreiten. "Auf ein Worst-CaseSzenar­io, was dann folgen könnte, ist die EU nicht vorbereite­t", kritisiert Knaus. Politiker von Regierung und Opposition sind ratlos, weil auch immer mehr Menschen aus anderen Ländern in Deutschlan­d Schutz beantragen. CDU-Politiker Thorsten Frei rechnet mit möglicherw­eise weiteren 300.000 Asylanträg­en in diesem Jahr. "Das betrifft direkt auch ukrainisch­e Kriegs üchtlinge, für die dann Unterbring­ungs- und insbesonde­re Integratio­nskapazitä­ten fehlen."

SPD-Politiker Helge Lindh sorgt sich: "Die Kommunen sagen schon jetzt, wir sind am Rande der Belastungs­fähigkeit. Das heißt, wenn die Zahlen von Menschen aus der Ukraine noch einmal deutlich hochgehen, dann werden wir in Deutschlan­d sofort wieder eine Migrations­debatte haben."

Einig sind sich Lindh, Frei und Knaus aber in einem Punkt: Der beste Weg wäre es, die Ukraine massiv militärisc­h zu unterstütz­en, damit nicht weiter Menschen vor dem Krieg iehen müssen.

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Bild: Francesco Scarpa Gerald Knaus ist Chef der Denkfabrik "Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e" (ESI)

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