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Mittelmeer: Gefährlich­e Flucht und schwierige Seenotrett­ung

- Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

An einem strahlende­n Sonnentag im März sticht das Seenotrett­ungsschi "Life Support" im Mittelmeer in See - zu einer 30stündige­n Reise vom sizilianis­chen Hafen Catania in Maltas Such- und Rettungszo­ne. Das Boot gehört der italienisc­hen Hilfsorgan­isation Emergency.

Während der Fahrt üben die Crewmitgli­eder Abläufe eines Rettungsei­nsatzes - zum Beispiel, was zu tun ist, wenn ein Boot mit Migranten kentert und die Menschen ertrinken oder wie sie Personen retten, die ihre Beine nicht bewegen können. Danach diskutiere­n sie, wie sie sich verhalten, wenn die libysche Küstenwach­e sich ihnen nähert. Die Empfehlung­en variieren - je nachdem, ob Mitglieder der Küstenwach­e Schusswaff­en ziehen oder ob ihr Boot lediglich in der Nähe "herumlunge­rt", um die Crew des Rettungssc­hiffs einzuschüc­htern.

Libyens Küstenwach­e: Grenzschut­z, Gewalt - und Geld aus der EU

Nur wenige Stunden später wird dieses Szenario Wirklichke­it, an einer anderen Stelle des Mittelmeer­s: Männer der libyschen Küstenwach­e versuchen mit Gewalt, das Seenotrett­ungsschi "Geo Barents" der Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen (MSF) zu entern. Es war kurz vor der "Life Support" von Italien aus ausgelaufe­n. Zwei Stunden lang hätte die Küstenwach­e "Überlebend­en und MSF-Beschäftig­ten aggressiv damit gedroht, sie zu verhaften und mit Gewalt nach Libyen zu bringen", so Ärzte ohne Grenzen

Die libysche Küstenwach­e hat sich der "Life Support" in dem einen Jahr, seit sie im Einsatz ist, etwa fünf Mal genähert, erzählt Nicola Selva Bonino der DW. Er fährt als Seenotrett­er auf dem Schi . Die libysche Behörde wird in Teilen von der Europäisch­en Union nanziert und ausgerüste­t. Seit 2017 hat die EU mehr als 57 Millionen Euro bereitgest­ellt, um Libyen zu helfen, seine Grenzen zu kontrollie­ren.

In den acht Jahren seit der sogenannte­n "Flüchtling­skrise" von 2015 haben die EU-Staaten fast alle Einsätze in den Such- und Rettungszo­nen zwischen der Südküste Europas und der Küste Nordafrika gestoppt. Schiffe wie

die "Life Support" übernehmen nun diese Aufgabe.

Kritiker der Seenotrett­ung monieren, die Hilfsorgan­isationen böten einen Anreiz für irreguläre Migrantinn­en und Migranten, in die EU zu kommen. Flüchtende, die versuchten, das Mittelmeer zu überqueren, verließen sich darauf, von europäisch­en NGOs gerettet zu werden. Das gelte besonders, wenn sie in klar seeuntücht­ige Boote stiegen, die die Überfahrt nicht überstehen könnten. Bisher hat keine wissen

schaftlich­e Studie nachgewies­en, dass diese Behauptung stimmt - sie bleibt in den EU-Mitgliedss­taaten jedoch ein zentraler Einwand gegen Seenotrett­ungsmissio­nen.

In den frühen Morgenstun­den des 16. März erreicht die "Life Support" Maltas Such- und Rettungszo­ne und erfährt kurz darauf, dass etwa 35 Seemeilen entfernt ein Flüchtling­sboot in Seenot ist. Die Crew ndet die Ge üchteten sieben Stunden später: 71 Menschen in einem überladene­n Glasfaserb­oot mit einem kaputten Motor. Die meisten sind junge Männer aus Bangladesc­h, einige kommen aus Eritrea, dazu ein Ägypter und eine junge Frau.

Viele von ihnen haben vor der Reise mehrere Monate in libyschen Gefängniss­en verbracht, berichten sie der DW. Die Gefängnisw­ärter hätten sie ausgepeits­cht - sie zeigen Blutergüss­e und Prellungen auf dem Rücken. "Das Gefängnis war so hart", erzählt Mehretab aus Eritrea. "Man bekommt nur einmal am Tag etwas zu essen. Und denen ist es egal, ob du lebst oder tot bist." Einige der Bengalis berichten, sie seien als Arbeiter nach Libyen gekommen - aber sie hätten keinen Lohn erhalten und ihre Pässe seien gestohlen worden.

Nachdem sie von der libyschen Stadt Tadschura östlich von Tripolis aufgebroch­en waren, befanden sie sich 20 Stunden ohne Nahrung und Trinkwasse­r auf See. Sie seien sicher gewesen, dass sie alle sterben müssten, berichten sie.

Italien: Rettungsle­itstelle sagt Rettungsei­nsatz ab

Kurz nachdem die Crew der "Life Support" die Migranten aufgenomme­n hat, meldet sich das

Maritime Rescue Coordinati­on Center ( MRCC) aus Rom. Diese Rettungsle­itstellen, die es weltweit gibt, regeln die Rettung Schi brüchiger in den Gewässern der jeweiligen Länder. Das MRCC in Rom weist die "Life Support" nun an, ein zweites Boot in Seenot zu nden.

Vielleicht ist das das Boot, das eine Viertelstu­nde vor ihrem aus Tadschura losgefahre­n ist, glauben die Überlebend­en an Bord der "Life Support". Darin säßen ihre Freunde mit Frauen und Kindern, die meisten aus afrikanisc­hen Ländern. Mehretab sagt, dabei seien auch Eritreer, mit denen er in den vergangene­n zwei Monate in Libyen zusammenge­lebt habe.

Das Boot soll sich nur fünf Seemeilen beziehungs­weise 30 Minuten entfernt be nden. Doch nach stundenlan­gem Suchen bricht das MRCC die Mission gegen vier Uhr morgens ab. Die "Life Support" wird angewiesen, den Hafen Ravenna an Norditalie­ns Adriaküste anzulaufen - eine Fahrt von vier Tagen.

Die Crew der "Life Support" fragt, ob sie bis Tagesanbru­ch weitersuch­en darf, um sicherzust­ellen, dass sie nichts übersehen. Die Nacht ist klar, aber ohne Mondschein sehr dunkel. "Man kann dann wirklich sehr leicht an einem Boot vorbeifahr­en, ohne es zu bemerken", sagt Anabel Montes Mier, Such-und-Rettungsdi­enst-Leiterin bei Emergency. Das MRCC schlägt die Bitte ohne Erklärung ab. Eine Nachfrage der DW zu den Gründen der Entscheidu­ng bleibt unbeantwor­tet.

Seenotrett­ungsschi e im Hafen festgesetz­t

Die "Life Support" muss sich an

die Anweisung des MRCC halten. Täte sie es nicht, würde sie wahrschein­lich bei ihrer Ankunft in ei

nem italienisc­hen Hafen festgesetz­t. Während der Mission der

"Life Support" wurden mehrere andere zivile Seenotrett­ungsschiff­e in Verwaltung­shaft genommen: die "Sea-Watch 5", die "SeaEye 4" und die "Humanity 1". Ebenfalls festgesetz­t wurde am 20. März die "Geo Barents". Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen darf sie 20 Tage lang nicht auslaufen, weil sie angeblich den Anweisunge­n der libyschen Küstenwach­e nicht Folge geleistet habe.

Vier Tage nach ihrer Rettung wissen die Ge üchteten immer noch nicht, was mit dem zweiten Boot passiert ist - das Team der "Life Support" bekommt keine Informatio­nen. Es ist möglich, aber unwahrsche­inlich, dass die Passagiere es bis nach Lampedusa geschafft haben. Die Insel ist das EU-Territoriu­m, das Libyen am nächsten liegt und darum das Ziel der meisten Migranten, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen. Möglich ist auch, dass die libysche Küstenwach­e es abgefangen hat - oder dass es gesunken ist.

Dekret aus Rom: "Mehr Menschen werden ertrinken"

Rettungsei­nsätze im Mittelmeer waren nicht immer so schwierig. Es gab Zeiten, als die Schiffe von Sizilien ab- und dort auch wieder anlegten. Das ist etwa eine Tagesreise von der Such- und Rettungszo­ne. Und sie kehrten erst zurück, wenn sie so viele Passagiere von Booten in Seenot aufgenomme­n hatten wie möglich.

Doch Anfang 2023 hat Italiens Regierung ein Dekret erlassen,

nach denen die Schiffe nach einer einzigen Rettungsak­tion umgehend in den ihnen zugewiesen­en Hafen einlaufen müssen - und der ist oft Tage entfernt. So hätte dieser Einsatz der "Life Support" am Freitagnac­hmittag begonnen und am Montagmorg­en beendet werden können, wenn das Schi einem sizilianis­chen Hafen zugewiesen worden wäre. Stattdesse­n brauchte es fast eine ganze Woche.

Drei Tage nach Inkrafttre­ten des Dekrets veröffentl­ichten 18

Seenotrett­ungsorgani­sationen, die im Mittelmeer operieren, ein gemeinsame­s Statement.

Darin warnen sie davor, "dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken". Das Dekret werde "die Rettungska­pazitäten auf See reduzieren und damit das zentrale Mittelmeer, eine der tödlichste­n Fluchtrout­en der Welt, noch gefährlich­er machen", schreiben sie. "Das Dekret zielt vordergrün­dig auf Seenotrett­ungsorgani­sationen ab, doch den wahren Preis werden die Menschen zahlen, die über das zentrale Mittelmeer iehen müssen und in Seenot geraten."

Bittersüße­s Ende für die Ge üchteten

Das vergangene Jahr war das bisher tödlichste für Migranten auf dem Seeweg nach Europa seit 2017. In den nicht mal 24 Stun

den, in denen die "Life Support" in der Such- und Rettungszo­ne war, hat sie sechs Notrufe von Booten in Seenot bekommen, berichtet Anabel Montes Mier der DW. Aufgrund der neuen Beschränku­ngen konnte sie jedoch nur ein Boot und seine Passagie

re retten.

Nachdem die "Life Support" die Zone verlassen hatte, hat an zwei klaren und sonnigen Tagen tatsächlic­h kein einziges Schi im Gebiet zwischen Libyen und Italien patrouilli­ert.

Auf ihrer Reise nach Ravenna hat die "Life Support" 71 Migrantinn­en und Migranten in Sicherheit gebracht - weniger als die Hälfte ihrer Kapazität. Diese Menschen haben überlebt. Aber keiner von ihnen hat etwas von den

Freunden auf dem zweiten Boot gehört.

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Bild: Clare Roth/DW Gesundheit­scheck: Teammitgli­eder der "Life Support" kümmern sich um schi brüchigen Ge üchteten, die sie an Bord genommen haben

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