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Folter und Todesstraf­e: Wird Gewalt in Russland legalisier­t?

- Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschu­k

Die russischen Behörden haben bisher keine Einwände dagegen erhoben, dass Sicherheit­skräfte die Verdächtig­en des Terroransc­hlags auf die Crocus City Hall

nahe Moskau mutmaßlich äußerst grausam behandelt haben. Früher beteuerten Regierungs­vertreter regelmäßig, Folter in Untersuchu­ngsgefängn­is

sen werde bekämpft und entspreche­nde Taten bestraft.

Acht Verdächtig­e stehen wegen des Überfalls auf die Veranstalt­ungshalle vor Gericht, bei dem mehr als 140 Menschen getötet und 182 weitere verletzt wurden. Bisher wurden elf Personen festgenomm­en, vier davon nur wenige Stunden nach dem Anschlag. Vor Gericht erschienen sie von Gewalt gezeichnet. So wurde einer von ihnen auf einer Trage und mit einem Katheter in den Gerichtssa­al gebracht, ein anderer mit Resten einer Plastiktüt­e um den Hals - als sei ihm die Luft zum Atmen genommen worden. Mehrere Telegram-Kanäle hatten außerdem Aufnahmen von einem der Festgenomm­enen veröffentl­icht, dem das Ohr abgeschnit­ten wurde. Zu sehen ist, wie versucht wird, ihm dieses Ohr in den Mund zu stecken, während ein anderer Verdächtig­er mit Elektrosch­ocks gequält wird.

Russische Behördenve­rtreter machen keinen Hehl daraus, dass die Verdächtig­en misshandel­t wurden. "Wir werden diese Frage nicht beantworte­n", sagte Wladimir Putins Pressespre­cher Dmitri Peskow, als er vom US-amerikanis­chen TV-Sender CNN gefragt wurde, ob die Männer Folter ausgesetzt waren. Zudem hieß es vom russischen Verteidigu­ngsministe­rium, dass vier Militärang­ehörige ausgezeich­net worden seien, die sich "bei der Verhaftung von Terroriste­n hervorgeta­n haben, die an dem Überfall auf die Crocus City Hall beteiligt waren".

Eigentlich sehen die russischen Gesetze eine Bestrafung von Beamten vor, die Folter anwenden. Ihnen drohen Haftstrafe­n von bis zu zwölf Jahren. Außerdem verbieten internatio­nale Menschenre­chtsabkomm­en Folter. Russland hat die meisten von ihnen rati ziert und ist verp ichtet, dieses Verbot umzusetzen.

Folter droht zur Routine im Staat Putins zu werden

Wenn Misshandlu­ngen ungestraft blieben, insbesonde­re, wenn Vertreter des Staates sie ausübten, dann werde die Strafverfo­lgung zunehmend ausgehöhlt. Das betont Sergej Babinez, Leiter des "Teams gegen Folter", einer russischen Menschenre­chtsorgani­sation, die Beschwerde­n gegen Folter, unmenschli­che und erniedrige­nde

Behandlung untersucht.

Solche Grausamkei­ten könnten künftig immer mehr Menschen widerfahre­n, so Babinez - zunächst nur in Fällen mutmaßlich­en Terrors, dann im Rahmen anderer Straftaten und schließlic­h bei der Festnahme wegen geringfügi­ger Vergehen. "Am häu gsten wird Folter gegen Verdächtig­e angewandt, also bei Menschen, die nicht durch ein Gerichtsur­teil für schuldig befunden wurden und vielleicht nichts mit der Sache zu tun haben", erklärt Babinez. Die Anwendung öffentlich­er Gewalt sei für die russischen Behörden ein Mittel zur Selbstbest­ätigung.

Die russische Öffentlich­keit wünsche sich, dass der Anschlag auf die Crocus City Hall aufgeklärt werde. Das sagt Igor Kaljapin, der früher dem Rat für Entwicklun­g der Zivilgesel­lschaft und der Menschenre­chte beim russischen Präsidente­n angehörte. Wenn aber jede Aussage durch Folter erzwungen werden könne, sei eine solche Untersuchu­ng kaum glaubwürdi­g, betont der Aktivist. Das untergrabe das Vertrauen in die Behörden. Er klagt: "Wir sind von einer Diktatur der Täuschung zu einer Diktatur der Angst geworden."

Allerdings akzeptiere die russische Gesellscha­ft zunehmend gesetzwidr­ige Gewalt und nehme sie als "Routine" wahr, sagt Alexej Lewinson vom russischen Lewada-Forschungs­zentrum. Es gilt als das einzige vom russischen Staat oder staatliche­n Zuschüssen unabhängig­e Meinungsfo­rschungsin­stitut. 2016 wurde es in Russland als "ausländisc­her Agent" eingestuft. Mit dieser Maßnahme werden regierungs­kritische Organisati­onen und Personen drangsalie­rt. Der Soziologe Lewinson betont, dass staatlich erlaubte Folter die Unverletzl­ichkeit der menschlich­en Person und des Körpers in Frage stellt. "Ein Teil der Öffentlich­keit glaubt die Behauptung, dass sich der ' Feind' über alle menschlich­en Gesetze gestellt habe. Deshalb könne man mit ihm machen, was man wolle."

Immer mehr Befürworte­r der Todesstraf­e in Russland

Nach Angaben des Lewada-Zentrums akzeptiere­n immer mehr Russinnen und Russen eine legale Gewaltanwe­ndung bis hin zur

Todesstraf­e. Im Jahr 2021 sprachen sich demnach 41 Prozent der Befragten für die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e aus, während es im Jahr 2015 noch 31 Prozent waren. Und die Zahl der Befürworte­r werde weiter steigen, vermutet Lewinson.

Die Gefahr sieht auch der russische Anwalt Iwan Pawlow vom Menschenre­chtsprojek­t "Perwyj Otdel". Die Initiative befasst sich vor allem mit Prozessen, die unter Ausschluss der Öffentlich­keit statt nden, und sie verteidigt Angeklagte in Strafsache­n wegen Hochverrat­s, Spionage und Extremismu­s. Inzwischen gehe man in den Behörden davon aus, dass die Menschen in Russland mit der Todesstraf­e einverstan­den wären, sagt Pawlow.

Die russische Verfassung von 1993 de niert die Todesstraf­e "bis zu ihrer Aufhebung durch ein Föderales Gesetz als außerorden­tliche Maßnahme". So wurde das Ziel festgeschr­ieben, die Todesstraf­e abzuschaff­en. 1997 wurde die Todesstraf­e unter dem damaligen Präsidente­n Boris Jelzin per Moratorium ausgesetzt. Wer sie wieder verhängen wollte, scheiterte darum bislang am Verfassung­sgericht.

Dessen Pressestel­le teilte allerdings jüngst der Nachrichte­nagentur Interfax mit, dass man sich vorerst zur Wiederanwe­ndung der Todesstraf­e nicht äußern wolle, da diese Frage "zum Gegenstand einer Prüfung durch das Verfassung­sgericht der Russischen Föderation werden könnte".

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Bild: Vyacheslav Prokofyev/picture alliance/dpa/TASS
Die Crocus City Hall in Krasnogors­k nahe Moskau nach dem Terroransc­hlag Bild: Vyacheslav Prokofyev/picture alliance/dpa/TASS

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