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Ruanda gedenkt der Opfer des Völkermord­s von 1994

- Übersetzun­g aus dem Englischen: Nikolas Fischer

Mehr als eine Million Menschen wurden in Ruanda 1994 zu Opfern - vor allem Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi, aber auch gemäßigte Angehörige der Hutu-Mehrheit, die versuchten, die Tutsi zu schützen. Während eines 100-tägigen Massakers, das am 7. April begann, wurden sie systematis­ch von Hutu-Extremiste­n ermordet.

Die Vereinten Nationen organisier­en Veranstalt­ungen, um der Opfer zu gedenken und die Überlebend­en zu ehren: "Wir werden die Opfer dieses Völkermord­es niemals vergessen", sagte UNChef Antonio Guterres in einer Erklärung. "Ebenso wenig werden wir jemals den Mut und die Widerstand­skraft derer vergessen, die überlebt haben."

Familienma­ssaker: ein persönlich­es Schicksal

Freddy Mutanguha, ein Tutsi, ist einer der Überlebend­en. Zum Zeitpunkt des Völkermord­s war er 18 Jahre alt. Er hatte gerade Schulferie­n und war in seinem Heimatdorf in der Nähe der Stadt Kibuye, rund 130 Kilometer von Ruandas Hauptstadt Kigali entfernt. Hutu-Extremiste­n machten dort Jagd auf junge Männer, weil sie sie verdächtig­ten, mit der Ruandische­n Patriotisc­hen Front (RPF) zu sympathisi­eren, einer hauptsächl­ich von Tutsi geführten Rebellengr­uppe unter Paul

Kagame, der später Ruandas Präsident werden sollte.

Da sie das Schlimmste für ihren Sohn befürchtet­e, riet ihm seine Mutter, sich im Haus einer Hutu-Familie zu verstecken, deren Sohn mit ihm zur Schule gegangen war. Während Freddy Mutanguha bei seinem ehemaligen Schulfreun­d in Sicherheit

war, musste seine Familie, die sich in einem nahe gelegenen Ort aufhielt, zu anderen Methoden greifen: Um am Leben zu bleiben, bestach sie eine Gruppe von Hutu-Extremiste­n mit Geld und Alkohol.

Doch am 14. April ging der Familie das Geld aus. Das hatte dramatisch­e Folgen: Die Extremiste­n ermordeten Freddys Eltern und vier seiner Schwestern - 4, 6, 11 und 13 Jahre alt - auf brutale Weise. "Ich konnte die Schreie meiner Geschwiste­r hören, als sie erbarmungs­los getötet wurden", erinnert sich Mutanguha im Gespräch mit der DW. "Sie ehten ihre Angreifer an, ihr Leben zu verschonen, und versprache­n, nie wieder Tutsi zu sein, aber vergeblich. Sie warfen meine Schwestern in eine nahegelege­ne Grube - einige waren noch am Leben - und töteten sie mit Steinen. Meine Eltern wurden mit Macheten hingericht­et."

Nur eine einzige Schwester, Rosette, konnte entkommen und überlebte. Die Mörder suchten auch nach Freddy - er blieb die ganze Zeit in seinem Versteck. "Es wäre Selbstmord gewesen, wenn ich es verlassen hätte", so Mutanguha gegenüber der DW. Neben seinen Eltern und den vier Schwestern hat er durch den Völkermord mehr als 80 Mitglieder seiner Großfamili­e verloren.

Einige der Mörder von Mutanguhas Angehörige­n wurden im Rahmen eines Vergleichs freigelass­en. Dieser ermöglicht­e es den Tätern, nur die Hälfte ihrer Strafe zu verbüßen, wenn sie den Staatsanwä­lten dafür wichtige Informatio­nen über die Verdächtig­en und die Orte lieferten, an denen die Leichen beseitigt worden waren.

Freddy Mutanguha war früher der Vizepräsid­ent von IBUKA, einer Gruppe für ruandische Über

lebende des Völkermord­s. Heute ist er Direktor des Kigali Genocide Memorial, der Gedenkstät­te für den Völkermord in Ruandas Hauptstadt - dort sind die Überreste von rund 250.000 Opfern begraben.

Ein schwierige­r Heilungspr­ozess für Überlebend­e

Trotz der Bemühungen Ruandas, die Versöhnung zwischen Überlebend­en und Tätern voranzutre­iben, ist der Weg zur Heilung der tiefen Wunden für Menschen wie Mutanguha oder seine Schwester äußerst steinig. "Die Täter sagen oft nicht die ganze Wahrheit. Das behindert die Versöhnung­sbemühunge­n und ist für die Überlebend­en beunruhige­nd", sagt er.

Einer der Mörder seiner Familie zum Beispiel habe viele Informatio­nen zurückgeha­lten, erklärt er. "Er wurde freigelass­en, nachdem er 15 der 25 Jahre, zu denen er verurteilt worden war, abgesessen hatte - und das nur wegen der spärlichen Informatio­nen, die er den Staatsanwä­lten mitgeteilt hatte", bedauert Mutanguha. "Wir müssen damit leben - denn unsere Angehörige­n werden nie wieder zurückkomm­en."

Trotzdem habe sein Land bedeutende Fortschrit­te gemacht, räumt Mutanguha ein - eine Ansicht, die er mit Phil Clark teilt. Der Professor für internatio­nale Politik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) hat die Entwicklun­gen in Ruanda in den letzten 20 Jahren erforscht.

"Ruanda hat enorme Fortschrit­te bei der Versöhnung nach dem Völkermord gemacht, wenn man bedenkt, dass Hunderttau­sende verurteilt­e Völkermord-Täter heute wieder in denselben Gemeinden leben, in denen sie ihre Verbrechen begangen haben - Seite an Seite mit Überlebend­en

des Völkermord­s", so Clark gegenüber der DW. "Die meisten dieser Gemeinscha­ften sind friedlich, stabil und produktiv." Viele Kommentato­ren hätten vorausgesa­gt, dass Ruanda nach dem Völkermord weitere Zyklen der Gewalt durchlaufe­n würde - so wie es in den meisten Nachbarsta­aten der Fall sei. Doch dem Land sei es gelungen, dieses Schicksal zu vermeiden.

Wie soziale Medien die Versöhnung behindern

Die Überlebend­en mussten ihre Gefühle überwinden und mit den Tätern zusammenar­beiten, sagt Mutanguha. Der größte Stolperste­in für die Einheit seien die Ruanderinn­en und Ruander in der Diaspora: "Sie sind berüchtigt dafür, spaltende Informatio­nen auf sozialen Medien zu verbreiten und an ihre Familien in der Heimat weiterzuge­ben. Das behindert die Versöhnung­sbemühunge­n - insbesonde­re unter der Jugend, die nur wenig über die Geschehnis­se vor 30 Jahren weiß", so Mutanguha.

Tatsächlic­h hatten Jahrzehnte der interethni­schen Spannungen und Gewalt schon vor dem Völkermord von 1994 mehrere Migrations­wellen zur Folge. Viele der Vertrieben­en sind nie zurückgeke­hrt. Die größte Herausford­erung für die Versöhnung liege in der ruandische­n Diaspora, sagt auch Politikwis­senschaftl­er Clark - also bei den Menschen, die gar nicht selbst an den wichtigen Versöhnung­sprozessen in ihrem Heimatland teilgenomm­en haben. "Die zerstöreri­schste interethni­sche Dynamik ndet derzeit unter der ruandische­n Bevölkerun­g in Nordamerik­a, Westeuropa und anderen Teilen Afrikas statt", so Clark. "Diese wirkt auf Ruanda selbst zurück. Die nächste entscheide­nde Phase der Versöhnung muss in den Gemeinscha­ften außerhalb Ruandas statt nden."

Repatriier­ung ruandische­r Flüchtling­e

Die Versöhnung sei ein noch weit entfernter Traum, sagt Victoire Ingabire Umuhoza, die prominente­ste Kritikerin von Präsident Paul Kagame. Um sie wirklich zu erreichen, müssten alle ruandische­n Flüchtling­e weltweit in die Heimat zurückgeho­lt werden, ndet sie. "Es gibt immer noch viele ruandische Flüchtling­e, vor allem in den Nachbarlän­dern, die repatriier­t werden müssen, damit eine echte Versöhnung statt nden kann", sagte Ingabire in einer Neujahrsbo­tschaft auf dem YouTube-Kanal ihrer Partei. "Wir leben in Frieden - aber die Versöhnung ist immer noch gering und es herrscht ein tiefes Misstrauen unter den Ruandern", so Ingabire.

"Die ruandische Regierung ist auch besorgt über die Flüchtling­e in den Nachbarlän­dern, die sich entschiede­n haben, zu den Waffen zu greifen und gegen sie zu kämpfen. Dieses Problem wird niemals enden, wenn wir, die wir im Land sind, uns nicht zuerst vereinen und versöhnen." Ingabire bezog sich dabei auf die Rebellen der Demokratis­chen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), einer ethnischen Hutu-Rebellengr­uppe.

Ruandas Präsident Paul Kagame betrachtet die FDLR seit Langem als eine existenzie­lle Bedrohung für sein Land. Die Gruppe wurde von den USA als terroristi­sche Organisati­on eingestuft. Die anhaltende Existenz der FDLR, die angeblich von der Regierung im benachbart­en Kongo geduldet wird, hat zu Anschuldig­ungen geführt, dass Ruanda konkurrier­ende Rebellengr­uppen wie die M23Bewegun­g unterstütz­t. Ruanda bestreitet, die M23 zu unterstütz­en.

Das jüngste Wiederauf ammen der Kämpfe im Osten der DR Kongo hat zu ernsthafte­n Spannungen zwischen Kigali und Kinshasa geführt - einschließ­lich der Androhung eines Krieges durch den kongolesis­chen Präsidente­n Félix Tshisekedi.

All das deutet darauf hin, dass die Lücken im Versöhnung­sprozess auch 30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda eine ernsthafte Sicherheit­sbedrohung für die gesamte Region darstellen.

Ein langer Weg: Annäherung, Sinneswand­el, Ho - nung

Die Regierung, die Zivilgesel­lschaft und die Bürger haben zahlreiche Anstrengun­gen unternomme­n, um die Ideologie des Völkermord­s hinter sich zu lassen - doch nicht alle haben den für eine Annäherung erforderli­chen Sinneswand­el vollzogen.

Wöchentlic­he Dialogclub­s und Vereinigun­gen auf Gemeindeeb­ene, in denen die Menschen über vergangene und gegenwärti­ge

Kon ikte diskutiere­n, haben den Ruandern entscheide­nd dabei geholfen, zu heilen und sich positiv zu entwickeln. Die Situation sei heute viel positiver als noch vor fünf oder zehn Jahren, sagt Politikwis­senschaftl­er Clark. "Aber die meisten Ruander, mit denen ich spreche, sagen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt."

Freddy Mutanguha weist darauf hin, wie wichtig es ist, weltweit des ruandische­n Völkermord­s zu gedenken: "Die Erinnerung an die Geschehnis­se in Ruanda vor 30 Jahren sollte nicht nur für die Tutsi gelten, die den Völkermord überlebt haben, sondern für die ganze Welt. Um daraus zu lernen - denn es war ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit."

 ?? ?? Rebellenfü­hrer Paul Kagame, dessen RPF den Völkermord in Ruanda beendete, galt schon früh als eigentlich­er Machthaber - hier im Juli 1994 mit Präsident Pasteur Bizimungu
Bild: epa/dpa/picture alliance
Rebellenfü­hrer Paul Kagame, dessen RPF den Völkermord in Ruanda beendete, galt schon früh als eigentlich­er Machthaber - hier im Juli 1994 mit Präsident Pasteur Bizimungu Bild: epa/dpa/picture alliance

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