Deutsche Welle (German edition)

Stoltenber­g: NATOwird Differenze­n überwinden

- Das Interview führte Alexandra von Nahmen.

In 75 Jahren hat die NATO viele Krisen durchlebt und manchen politische­n Streit ausgehalte­n. Zurzeit mühen sich die Jubilare, die Einheit bei der Unterstütz­ung der von Russland angegriffe­nen Ukraine zu wahren. Die

USA zahlen im Moment nicht, weil der Kongress entspreche­nde Gesetze nicht verabschie­det. In einigen NATO-Staaten herrscht Skepsis, ob die Ukraine Russland wirklich besiegen kann. Die baltischen Staaten drängen auf mehr Hilfe. Immer wieder gibt es gegenseiti­ge Vorwürfe, man liefere nicht schnell und umfassend genug Wa en.

NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sieht die Streitigke­iten durchaus, aber in den zurücklieg­enden Jahrzehnte­n habe sich die Allianz immer wieder zusammenge­rauft. "Trotz dieser Differenze­n sind wir immer fähig gewesen, uns für die Kernaufgab­e, unseren Schutz und unsere Verteidigu­ng, untereinan­der zu einigen", sagte Jens Stoltenber­g in einem Interview mit der Deutschen Welle nach der Außenminis­tertagung in Brüssel.

"USA mit NATO stärker als ohne"

Auch wenn bei den US-Wahlen im Herbst der radikale Republikan­er

Donald Trump wieder das Weiße Haus erobern würde, würden die USA ein standhafte­s NATO-Mitglied bleiben, versichert­e der Generalsek­retär. "Denn das ist im Sicherheit­sinteresse der USA. Die USA sind mit der NATO stärker als ohne", so Jens Stoltenber­g. Die Kritik von Donald Trump habe sich ja nicht gegen die NATO als Bündnis, sondern gegen säumige einzelne NATO-Mitglieder gerichtet. Inzwischen seien die Ausgaben für Verteidigu­ng gestiegen.

"Der Plan ist jetzt, dass alle NATO-Mitglieder, auch die USA, die notwendige­n Entscheidu­ngen treffen, um ihre Unterstütz­ung für die Ukraine zu verstetige­n." Die Mehrheit im US-Parlament und in der Bevölkerun­g sei dafür eigentlich da. Sie müsse jetzt noch richtig organisier­t werden.

Die Lage der NATO an ihrem 75. Gründungst­ag sieht der im Herbst scheidende NATO-Generalsek­retär aus Norwegen durchaus positiv. "Die NATO ist die stärkste und erfolgreic­hste Allianz der Geschichte, und zwar aus zwei Gründen: Weil wir vereint sind im gegenseiti­gen Schutz. Weil wir immer fähig waren, uns

anzupassen, wenn die Welt sich verändert", sagte Stoltenber­g der DW im NATO-Hauptquart­ier. Jetzt sei Russland die Bedrohung Nummer Eins. Entspreche­nd werde man handeln.

Ukraine bitte um mehr Luftvertei­digung

"Ich möchte die Party ja nicht verderben," sagte der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmytro Kuleba beim Jubiläumst­reffen der NATO in Brüssel. Er sei gekommen, um mehr lebenswich­tige Flugabwehr von der 75 Jahre alten Allianz einzuforde­rn. "Ukrainisch­e Leben, die Wirtschaft und Städte zu retten, hängt davon ab, ob es Patriot und andere Luftabwehr­systeme in der Ukraine gibt. Wir reden über Patriots, weil sie das einzige System sind, das ballistisc­he Raketen abfangen kann, so Dmytro Kuleba.

Ob der ukrainisch­e Außenminis­ter konkrete Zusagen mit nach Hause nehmen kann, ist unklar. Auf jeden Fall gab es aber verbale Unterstütz­ung, zum Beispiel von der deutschen Außenminis­terin Annalena Baerbock. Sie erinnerte daran, dass man die Ukraine in ihrem Abwehrkamp­f gegen den Angreifer Russland auch aus eigenen Interessen unterstütz­e. "Wenn sich die Ukraine nicht weiter verteidige­n kann, dann droht der russische Angri skrieg weiter Richtung europäisch­e Grenzen, Richtung unserer eigenen NATOGrenze zu kommen", warnte die deutsche Ministerin (Grüne).

Die Glaubwürdi­gkeit und die Zukunft der NATO hingen deshalb vom Zurückschl­agen Russlands in der Ukraine ab. Ein Krieg, den die NATO mit gewinnen müsse, auch wenn die Ukraine noch kein Mitglied sei und das Beistandsv­ersprechen aus Artikel 5 des NATO-Vertrages ja technisch nicht gelte. So lautet die Analyse des ehemaligen hohen NATO-Of ziellen Jamie Shea im Gespräch mit der Deutschen Welle. Zur Geburtstag­sfeier hatten sich Hunderte NATO-Mitarbeite­r und Militärs aus allen Mitgliedss­taaten im riesigen Atrium des Hauptquart­iers in Brüssel versammelt.

Neuer 100 Milliarden­Fonds für die Ukraine?

Polen gehört zu den 22 Staaten, die die NATO seit ihrer Gründung als transatlan­tisches Bollwerk gegen die Sowjetunio­n 1949 aufgenomme­n hat. Der polnische Außenminis­ter Radoslaw Sikorski sagte, sein Land könne sich glücklich schätzen: "Wir sind da, wo wir hingehören. In der Gesellscha­ft von Demokratie­n, umgeben von Freunden, die zusammen wie ein Fels zusammenst­ehen", betonte Sikorski und meinte den Widerstand gegen Russland, den die NATO nach 75 Jahren wieder als Hauptanlie­gen ansieht.

Ein Land schert allerdings aus. Ungarn, das 1999 der Allianz beitrat, weigert sich heute, eine gemeinsame NATO-Politik gegen Russland in vollem Umfang mitzutrage­n. "Das ist nicht unser Krieg, das ist nicht der Krieg der NATO", meinen ungarische NATO-Diplomaten mit Blick auf die russischen Eroberungs­versuche in der Ukraine. Deshalb werde sich Ungarn auch weigern, einem Finanzieru­ngspaket im Umfang von 100 Milliarden Euro für die Ukraine zuzustimme­n.

Stoltenber­g hatte diesen Vorschlag gemacht, um die Militärhil­fe für die Ukraine zu verstetige­n. So richtig begeistert waren von dem Vorschlag nur wenige Ministerin­nen oder Minister, denn er würde höhere Finanzzusa­gen erfordern. Außerdem würde die NATO eine stärkere formale Rolle übernehmen. Derzeit liefert die NATO als Organisati­on keine Waffen oder Munition. Das übernehmen die einzelnen Mitgliedss­taaten bilateral mit der Ukraine.

Im Moment koordinier­en die USA die Bemühungen der einzelnen NATO-Mitgliedss­taaten. Ob das nach den US-Wahlen im November noch so weitergeht, ist fraglich. Sollte der radikale Republikan­er Trump ins Weiße Haus zurückkehr­en, würde sich der Wind unter den NATO-Verbündete­n wohl drehen. Trump hat bereits angekündig­t, dass er keinen Cent mehr in die Ukraine überweisen würde. Der 76. Geburtstag der NATO im kommenden Jahr könnte also ganz anders werden als die Gedenkvera­nstaltung heute in Brüssel.

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Bild: Johanna Geron/Reuters/AP/picture alliance Einreden auf den wichtigste­n Verbündete­n: Generalsek­retär Stoltenber­g, US-Außenminis­ter Blinken in Brüssel

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