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Streit um Essequibo: Venezuela und Guyana vor einem Krieg?

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Die Spannungen zwischen Guyana und Venezuela schienen nachgelass­en zu haben. In dem mehr als ein Jahrhunder­t alten Kon ikt geht es um das Gebiet Essequibo, eine umstritten­e Region von 160.000 Quadratkil­ometern, die reich an Erdöl und anderen Ressourcen ist. Sie wird von Guyana verwaltet - und von beiden Ländern beanspruch­t.

Im Dezember hatte Venezuela in einem Referendum über die Annexion Essequibos abstimmen lassen. Nach Regierungs­angaben hatten die Teilnehmen­den mit großer Mehrheit dafür votiert, Essequibo solle zu Venezuela gehören. Der Streit war dadurch wieder aufge ammt, doch kurz danach einigten sich der venezolani­sche Präsident Nicolás Maduro und sein guyanische­r Kollege Irfaan Ali darauf, auf Gewalt zu verzichten und eine Lösung im Einklang mit internatio­nalem Recht zu suchen.

Venezuela erklärt Essequibo per Gesetz zum eigenen Bundesstaa­t

Diese Vereinbaru­ng hielt jedoch nicht lange. Am 3. April verabschie­dete Venezuela ein Gesetz, das die Region Essequibo zum 24. venezolani­schen Staat erklärt. Präsident Nicolás Maduro beschuldig­te bei der Gelegenhei­t auch die USA, "geheime Militärbas­en" im Nachbarlan­d einzuricht­en. Guyana werde nicht von Prä

sident Irfaan Ali, sondern vom US-Militär, dem US-Geheimdien­st CIA und dem US-amerikanis­chen Ölkonzern ExxonMobil regiert.

Guyana reagierte scharf und verkündete, dass es "die Annexion oder Besetzung eines Teils seines souveränen Territoriu­ms nicht dulden wird" und das neue Gesetz als " agrante Verletzung der Grundprinz­ipien des Völkerrech­ts" sieht. Gemäß eines internatio­nalen Schiedsspr­uchs aus dem Jahr 1899 gehört das Gebiet "Guayana Esequiba" zum damaligen Britisch-Guayana, das heute die Republik Guyana ist.

Die Sorge steht im Raum, dass der Streit zu einem bewa neten Kon ikt eskaliert. Der venezolani­sche Politologe Ángel Medina, ein ehemaliger Abgeordnet­er der venezolani­schen Nationalve­rsammlung, winkt ab: "Es liegt eindeutig nicht im Interesse eines der beiden Länder, Krieg zu führen", sagt er. "Für Venezuela wegen der Krise, in der es sich be ndet. Und für Guyana wegen seiner Wachstumsa­ussichten."

Während Venezuela seit Jahren in einer schweren politische­n und wirtschaft­lichen Krise steckt, ist die Wirtschaft Guyanas derzeit eine der am schnellste­n wachsenden der Welt. Ángel Medina erwartet, dass der Kon ikt künftig wieder diplomatis­ch ausgetrage­n wird.

Venezuelas Präsident Maduro instrument­alisiert den Streit um Essequibo

Hinter Maduros Manöver könnte auch eine innenpolit­ische Taktik stehen, vermutet Ricardo de Toma, ein auf den Essequibo-Kon ikt spezialisi­erter Politologe. Denn das jüngst verabschie­dete Gesetz verbietet allen, die sich in dem Territoria­lstreit gegen die Regierungs­linie ausspreche­n, für ein gewähltes Amt zu kandidiere­n. Das gibt dem Regime eine weite

re Möglichkei­t, die Opposition auszuschal­ten.

Doch das Gesetz hat für die gesamte Zivilgesel­lschaft "eine Reihe von äußerst gefährlich­en Lesarten", warnt de Toma. "Es erlaubt der Regierung, außergewöh­nliche Maßnahmen zu ergreifen, ein ordnungsge­mäßes Verfahren zu umgehen und sogar autoritäre Praktiken anzuwenden, um das postuliert­e nationale Interesse zu verteidige­n."

Außerdem ist Wahlkampf in Venezuela. Und Maduro habe weder wirtschaft­lich noch politisch viel vorzuweise­n, argumentie­rt Victor Mijares, Professor für internatio­nale Studien an der Universida­d de los Andes in Bogotá, Kolumbien, und Mitarbeite­r am German Institute for Global and Area Studies (GIGA). "Er braucht eine Botschaft, und in diesem Fall ist das der Nationalis­mus, der sich seit Jahrhunder­ten als sehr wirksame Botschaft erwiesen hat."

Riskanter Schachzug von Maduro

Diese Eskalation des Kon ikts kann aber auch auf Maduro zurückfall­en. Denn seit April 2023 befasst sich der Internatio­nale Gerichtsho­f (IGH) mit dem Fall Essequibo. Gerade hat Venezuela dem Gericht Dokumente eingereich­t, um seine Ansprüche auf das Gebiet zu bekräftige­n. Und dort, glaubt Mijares, könnte die aggressive Haltung Venezuelas für seine Verhandlun­gsposition kontraprod­uktiv sein und seinen Anspruch aus rechtliche­r Sicht schwächen. Denn Maduro sende die Botschaft, dass er das Urteil des IGH ignoriere, noch bevor es ergangen sei.

Victor Mijares erkennt ein Muster, das die Präsidents­chaft von Nicolás Maduro ebenso auszeichne wie die seines Vorgängers Hugo Chavez: "Der Chavismo opfert oft die historisch­en und langfristi­gen Interessen Venezuelas für die unmittelba­ren Interessen der Regierungs­partei oder des Führers."

Guyanas Regierung nutzt den Kon ikt, um sich zu pro lieren

Eines ist deutlich: Das aggressive Vorgehen Venezuelas kommt Guyana zugute. Die ehemalige britische Kolonie kann Maduros Anschuldig­ungen, das Nachbarlan­d beherberge US-Militärbas­en in Essequibo, lässig zurückweis­en. Es kann sich als ein Land präsentier­en, so Ricardo de Toma, das unweigerli­ch seine Armee stärken und Kooperatio­nsabkommen mit den Vereinigte­n Staaten unterzeich­nen muss. Es positionie­rt sich als Verbündete­r der USA in der Karibik.

In beiden Fällen - in Venezuela wie in Guyana - werde "der Nationalis­mus, die Souveränit­ät, als Fahne benutzt, die Regierunge­n intern zu stärken", fasst der Politikwis­senschaftl­er Ángel Medina zusammen. "Es handelt sich um völlig unterschie­dliche Regierunge­n, die sich aber in ihren Praktiken sehr ähnlich sind."

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Bild: Juan Barreto/AFP/Getty Images Übergroß: Venezuelas Präsident Nicolás Maduro auf einem Plakat in Caracas

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