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Anja Niedringha­us: Erinnerung an die "Bilderkrie­gerin"

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Banda Khel, Afghanista­n, 4. April 2014. "Ich bin glücklich", schreibt Anja Niedringha­us an ihren besten Freund und Fotografen Muhammed Muheisen. Eines ihrer Bilder ist an diesem Tag auf der Titelseite der "New York Times" abgedruckt. Anja ist gerade unterwegs in der ostafghani­schen Provinz Chost. Begleitet wird sie von der kanadische­n Reporterin und Freundin Kathy Gannon. Die beiden sind ein eingespiel­tes und erfahrenes Team. Für die amerikanis­che Nachrichte­nagentur Associated Press berichten sie über die Präsidents­chaftswahl­en in Afghanista­n.

Die Reise ist gut vorbereite­t und gilt als sicher. Sie fahren in einem Konvoi mit Polizei, Militär und Wahlhelfer­n. Anja möchte ein Foto von den Dorfbewohn­ern machen, die sich für die Wahl registrier­en lassen. Der Konvoi hat gerade an einem gut bewachten Polizeigel­ände angehalten. Anja und Kathy warten auf dem Rücksitz des Wagens, reden und scherzen. Plötzlich erö net ein junger Polizist das Feuer. Er schießt mit einer Kalaschnik­ow auf den Wagen und ruft dabei "Allahu Akbar" ("Gott ist groß"). Anja Niedringha­us stirbt auf der Stelle, die schwer verletzte Kathy wird ins Krankenhau­s gebracht.

"Sie hat Afghanista­n geliebt"

Anjas Familie kann nicht glauben, dass die Fotoreport­erin tot ist. "Tief in meinem Inneren habe ich gedacht, dass das nicht wahr ist", erinnert sich Elke Niedringha­usHaasper, Anjas ältere Schwester, im Gespräch mit der DW. "Meine Schwester liebte Afghanista­n und die Menschen dort, war begeistert von ihrer Gastfreund­schaft", fügt sie hinzu. Von gefährlich­en Situatione­n habe sie der Familie nie erzählt. "Sie berichtete von schönen Dingen, die man zum Teil auch auf ihren Fotos sieht", sagt die Schwester. Ein Foto aus Kabul zeigt einen lächelnden Jungen vor einer dunklen Bergkette. Er springt auf, um einen selbst gebastelte­n Drachen steigen zu lassen. Drachenste­igen war unter den Taliban verboten. Ein anderes Foto zeigt drei Frauen in Burkas mit einem Baby auf dem Arm. Ihre bunten Gewänder attern im Wind. Auf einem anderen - das Ende des Ramadan und Jungen, die auf einem Karussell fahren, einer mit einer Gewehrattr­appe.

Anja Niedringha­us: mutig und entschloss­en

Anja Niedringha­us glaubte an die Macht der Bilder, wollte sie der Welt zeigen und Kriege beenden. "Doch schon im ehemaligen Jugoslawie­nmusste sie erkennen, dass Fotos nicht ausreichen, um einen brutalen Krieg zu beenden", sagt Christine Longère, ehemalige Redakteuri­n der Tageszeitu­ng Neue Westfälisc­he und Mitbegründ­erin des Anja Niedringha­us Forums im westfälisc­hen Höxter, Anjas Heimatstad­t. Dort, in der Redaktion der Lokalzeitu­ng, lernte Longère die 17jährige Anja kennen, die als freie Mitarbeite­rin begann.

Anjas erster Auftrag war es, über die Verabschie­dung eines verdienten Rathausmit­arbeiters im 30 Kilometer entfernten Bad Driburg zu berichten. "Sie war 17 und hatte noch keinen Führersche­in, aber auf die Frage der Sekretärin antwortete sie wahrheitsg­emäß, dass sie Auto fahren könne. Als Segel iegerin war sie oft mit dem Auto über das Flugplatzg­elände gefahren. Sie holte sich die Schlüssel für den Dienstwage­n und fuhr los", erzählt Longère, die noch heute das erste Foto von Anja für die Neue Westfälisc­he" aufbewahrt. Es erschien auf der Titelseite. "Schon damals war sie unglaublic­h mutig und zielstrebi­g. Sie wusste, was sie wollte", sagt Longère.

Der erste Kriegseins­atz

Die junge Fotoreport­erin war noch sehr unerfahren, als sie 1991 für die European Pressphoto Agency (EPA) in den Krieg in das damalige Jugoslawie­n reiste. "Ein Krieg mitten in Europa? Ich fragte mich: Was mache ich hier eigentlich? Und bin sofort zu meinem Chefredakt­eur: ' Ich will da hin.' Der dachte, ich spinne. 'Welche Erfahrunge­n hast du überhaupt?' Ich hatte keine, ich war erst 26 Jahre alt. Aber ich schrieb ihm sechs Wochen lang jeden Tag einen Brief auf der Schreibmas­chine, bis er endlich sagte: 'Na, dann fahr.' Er und meine Kollegen waren sicher, die Niedringha­us ruft nach zwei Tagen an und will wieder zurück. Ich blieb fünf Wochen am Stück. Insgesamt habe ich dann fünf Jahre in Sarajewo verbracht", erzählt Anja Niedringha­us in einem Interview für das Buch "Bilderkrie­ger".

"Sie hat mir viel über den Krieg erzählt, über Sarajevo und die Momente, in denen ihre Fotos entstanden sind", erinnert sich Anjas Mutter Heide Ute Niedringha­us. Wie damals in Sarajevo, in einem Hinterhof. Es schneite, Kinder fuhren Schlitten und sie dachte, wie schön es ist, dass diese Kinder den Krieg für einen Moment vergessen können. Plötzlich og eine Granate und tötete ein Mädchen. "Ihr Name war Emine. Sie hatte lange dunkle Haare. Anja sagte, dass sie wie Schneewitt­chen aussah. Die Eltern des Mädchens und der Bruder des Vaters kamen aus dem Haus gerannt. Sie hielten ihre Hände über den Kopf von Emine. Das Foto ging um die Welt. Ein trauriges und bewegendes Bild", sagt Heide Ute Niedringha­us.

Fotos, die das Geschehen mit der Welt teilen

Für Anja Niedringha­us war es wichtig, als Augenzeugi­n das Geschehen zu dokumentie­ren und mit der Welt zu teilen. Auf ihren Bildern sieht man Frauen, die ihre Kinder aus brennenden Dörfern tragen, Männer, die am Straßenran­d Totenwache halten, oder eine Frau, die an einer Wasserausg­abestelle in Sarajevo in Tränen ausbricht, als sie erfährt, dass es kein Trinkwasse­r mehr gibt. Auch Soldaten erscheinen als Opfer des Krieges. Es sind junge Männer, die aus den amerikanis­chen Provinzen in den Irak geschickt wurden. Einer von ihnen trägt während der blutigen Schlacht um Falludscha eine G.I.-Joe-Figur als Glücksbrin­ger. Für dieses und andere Bilder aus dem Irak erhält Anja Niedringha­us 2005 den Pulitzer-Preis. Sie ist die erste deutsche Fotojourna­listin, die diese Auszeichnu­ng erhält. Anja Niedringha­us berichtet unter anderem aus dem Gazastreif­en, Israel, Kuwait, Libyen, Pakistan und Afghanista­n. Immer wieder entkommt sie dem Tod. 2010 läuft sie in Afghanista­n mit Soldaten durch eine Gasse, der Vordermann tritt mit dem Fuß nach einem Huhn. Anja hält das im Bild fest, doch Sekunden später schlägt eine Granate ein - sie wird durch Splitter schwer verletzt.

In Falludscha 2004 werden 60 Prozent der Einheit, die sie mit der Kamera begleitet, getötet. "Wenn ich vorher gewusst hätte, was ich in den zwei Wochen sehen würde, hätte ich es nicht gemacht, nein", sagt sie im Interview mit "Bilderkrie­ger". Und doch kehrt sie immer wieder in Kriegs- und Krisengebi­ete zurück. "Wir haben einen journalist­ischen Auftrag, wir haben eine gesellscha­ftliche Verp ichtung", wiederholt sie.

Als Journalist­in mit dem Leben bezahlt

Anja Niedringha­us ist eine von zahlreiche­n Journalist­innen und Journalist­en, die jedes Jahr bei der Ausübung ihres Berufs ums Leben kommen. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) wurden im Jahr 2023 weltweit 50 Journalist­innen und Journalist­en getötet. Andere Organisati­onen nennen - aufgrund unterschie­dlicher Herangehen­sweisen bei der Überprüfun­g der einzelnen Fälle - noch höhere Zahlen. Laut dem Komitee zum Schutz von Journalist­en (CPJ) wurden im vergangene­n Jahr 99 Medienscha­ffende getötet, mehr als drei Viertel davon im Zusammenha­ng mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas.

Rund 80 Prozent der Verbrechen blieben für die Täterinnen und Täter ohne Konsequenz­en. "Wo kein Kläger, da kein Richter", sagt Christophe­r Resch von ROG. "Oft sind es nur internatio­nale Organisati­onen wie Reporter ohne Grenzen, die den gewaltsame­n Tod von Medienscha­ffenden anprangern. In den betroffene­n Ländern selbst werden diese Fälle aus verschiede­nen Gründen oft nicht untersucht", erklärt er.

Zehn Jahre nach dem Tod von Anja Niedringha­us

Der Mörder von Anja Niedringha­us wurde gefasst und vor Gericht gestellt. Er gab an, aus Rache für den Tod von Familienan­gehörigen bei einem Bombenangr­i der NATO-Truppen gehandelt zu haben. Ein Gericht in Kabul verurteilt­e ihn zum Tode. Anja war eine Gegnerin der Todesstraf­e, ihre Familie wehrte sich gegen das harte Urteil. Der Oberste Gerichtsho­f Afghanista­ns reduzierte das Urteil auf 20 Jahre Haft. Zwei Jahre später bemühte sich die ein ussreiche Familie des Täters um seine Freilassun­g. "Jetzt ist er wohl auf freiem Fuß", sagt Heide Ute Niedringha­us nachdenkli­ch.

Am 4. April, dem zehnten Todestag ihrer Tochter, lässt sie weiße Blumen auf ihr Grab legen und Lichter in Herzform neben das Foto stellen. Das Forum Anja Niedringha­us in Höxter zeigt in der Ausstellun­g The Power of Facts" Fotos von Anjas mutigen Einsätzen in Kriegsgebi­eten. Am gleichen Tag erö nen Freunde von Anja im Bronx Documentar­y Center in New York eine Ausstellun­g über ihr Werk. Elke Niedringha­us-Haasper und Christine Longère werden ebenfalls anwesend sein, um die Erinnerung an Anja wach zu halten". Am selben Abend und Ort verleiht die Internatio­nal Women's Media Foundation (IWMF) den Anja Niedringha­us Courage in Photojourn­alism Award, um die Arbeit mutiger Fotojourna­listinnen weltweit zu würdigen.

So mutig wie Anja, die mit ihrer Kamera und ihrem Herzen" über Menschen in Krisengebi­eten berichtet. Hätte der afghanisch­e Polizist am 4. April 2014 nicht auf sie geschossen, würde Anja Niedringha­us heute vielleicht wieder das Schicksal der Menschen im Gaza-Krieg dokumentie­ren.

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Bild: Peter Dejong/AP Photo/picture alliance
Anja Niedringha­us (Foto von 2005) sah auch die andere Seite des Krieges Bild: Peter Dejong/AP Photo/picture alliance

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