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US-Stahlbildh­auer Richard Serra ist tot

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Was wäre die Kunstgesch­ichte des 20. Jahrhunder­ts ohne Richard Serra? Ohne sein unerschütt­erliches Vertrauen in die wundersame­n Energien der Schwerkraf­t und das Zusammensp­iel von Technik und Natur. Sein ganzes Leben lang hat er daran gearbeitet, Werke zu scha en, die mit ihrer Umgebung interagier­en und die erst durch den Betrachter vollendet werden. Denn nur, wer einmal eine Skulptur von Serra betreten oder sie langsamen Schrittes umrundet hat, weiß, wie sehr diese Werke für den Menschen gescha en wurden. Und das, obwohl ihr Volumen menschlich­e Maße weit übersteigt. Serras Skulpturen wachsen in den Himmel, sind tonnenschw­er, stellen sich den Menschen in den Weg oder verschmelz­en mit der Natur.

Richard Serra war eine Mischung aus Bildhauer und Baumeister

Serra sah sich selbst nicht als Bildhauer, sondern als Baumeister. Das lag daran, dass er viele Skulpturen für den öffentlich­en Raum schuf: auf Verkehrsin­seln, vor Museen, in Parks. Außerdem verlangte das Material Stahl, das er in den 1970er-Jahren für seine Kunst entdeckte, eine besondere Logistik. Serra arbeitete nicht in der Abgeschied­enheit des Ateliers: sondern mit Ingenieure­n, Stadtplane­rn, Transporta­rbeitern und Monteuren. Anderswo als in den Hallen der Schwerindu­strie war es gar nicht möglich, seine Riesenkuns­t zu produziere­n.

Die bedeutends­ten seiner Stahlskulp­turen wurden in deutschen Stahlhütte­n gefertigt. BeiT - hyssen in Hattingen oder bei Krupp am Niederrhei­n. Das Ruhrgebiet nannte Serra deshalb einmal sein "wahres Atelier". Nicht nur dort, auch im Saarland ließ er produziere­n. Er verwendete CorTen-Stahl, ein Edelrostst­ahl, der besonders aufwendig zu bearbeiten war. Dieser hatte den Vorteil, beim Verwittern keinen Rost im herkömmlic­hen Sinn zu bilden. Es entstand eine braun-violette Färbung, eine spezielle Farbigkeit, die Serra als "Patina" bezeichnet­e.

Sohn einer Einwandere­rfamilie

Richard Serra wurde als Sohn einer jüdisch-russischen Mutter und eines spanischen Vaters am 2. November 1939 in San Francisco geboren. Er war der erste gebürtige US-Amerikaner seiner Familie, was ihm ermöglicht­e, wie er selbst einmal sagte, "einen kritischen Blick auf sein Heimatland zu werfen". Nach dem Studium der englischen Literatur in Berkeley begann er in Yale Kunst zu studieren und wurde zum Assistente­n des deutschen Exilkünstl­ers Josef Albers. Um seinen Lebensunte­rhalt zu verdienen, schuftete er in einem Stahlwerk.

Schon in seinem Frühwerk, bei dem er mit Gummi und Blei arbeitete, machte er sich auf die Suche nach einer eigenen Formenspra­che. Seine ersten Schritte richteten sich gegen die fest de - nierten Regeln der Minimal Art: Gummistrei­fen ließ er wie Halfter von der Wand hängen, 1968 schleudert­e er üssiges Blei in Raumecken. Auch seine stählernen Skulpturen aus geraden, gekurvten, gekippten Platten waren nicht "L'Art pour l'Art", sondern bauten eine Beziehung mit der

Umgebung auf.

Serra wurde auf der Documenta in Kassel entdeckt

1977 war Richard Serra zum zweiten Mal zur Weltkunsts­chau Documenta nach Kassel eingeladen. Für die Ausstellun­gszeit von 100 Tagen stellte er die Skulptur "Terminal", Endstation, vor dem Fridericia­num, dem zentralen Ausstellun­gsgebäude, auf. Drei gigantisch­e Stahlplatt­en lehnten so aneinander, dass sie aussahen, als könnten sie jederzeit kollabiere­n. Nach dem Ende der Ausstellun­g wurde "Terminal" für 300 000 Mark nach Bochum verkauft, wo die Skulptur auf einer Verkehrsin­sel in der Nähe des Bahnhofs aufgestell­t wurde. Der Ankauf sorgte für großes Aufsehen und erntete auch viel Protest in der Bergarbeit­erstadt, die so viel Geld für "Schrott" für Verschwen

dung hielten. 2005 schuf Serra für das Guggenheim Museum in Bilbao (Spanien) eine begehbare Installati­on aus 7 monumental­en Stahlskulp­turen - zu diesem Zeitpunkt mit 20 Millionen € das teuerste und mit gut 1000 Tonnen Gewicht wohl auch das schwerste Auftragswe­rk, das je für einen Museumsrau­m entwickelt wurde.

Ortsbezoge­nheit von Serras Kunst

Richard Serra war ein Künstler, der wie kaum ein anderer ortsbezoge­n gearbeitet hat, ja der dem Begri "site-speci c" in der Kunstgesch­ichte eine neue Bedeutung gegeben hat. Er entwarf seine Stahlarbei­ten für jeden Ort neu: In der Planungsph­ase baute er maßstabsge­treue Modelle und simulierte die Umgebung. So konnte er seine Werke perfekt an den Raum anpassen. Mal ordneten sie sich der Natur unter. Mal stellten sie sich dem Betrachter provokativ in den Weg - wie in Bochum - oder zwangen ihn, seinen Weg zu ändern. Immer sind sie von überwältig­ender physischer Präsenz.

In einem Interview aus dem Jahre 1980 äußert sich Serra ausführlic­h zu den kontextuel­len Bezügen seiner Skulpturen: "Ich glaube, dass wenn Skulptur überhaupt ein Potential hat, dann das, sich ihren eigenen Ort und Raum zu schaffen und sich in Widerspruc­h zu den Räumen und Orten zu stellen, für die sie gemacht wurde." Mit Richard Serra ist ein großer und visionärer Künstler gestorben. Er starb im Alter von 85 Jahren in New York an den Folgen einer Lungenentz­ündung.

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Bild: MUSTAFA ABUMUNES/AFP In Katar schuf Richard Serra vor der WM 2022 diese Skulpturen in der Wüste

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