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Sturz-Risiko und Angst: Debatte über Sicherheit im Radsport

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Es waren schwer zu ertragende Bilder bei der vierten Etappe der Baskenland-Rundfahrt: Minutenlan­g hatte Tour de France-Sieger Jonas Vingegaard regungslos am Straßenran­d gelegen, bevor er von den Sanitätern versorgt und ins Krankenhau­s gefahren wurde. Sein Team gab später bekannt, dass sich der Däne das Schlüsselb­ein und mehrere Rippen gebrochen und eine Lungenquet­schung erlitten hat.

Nur wenige Meter von ihm entfernt lagen zwei seiner ärgsten Konkurrent­en für die Ende Juni startende Tour de France. Der Belgier Remco Evenepoel hielt sich mit schmerzver­zerrtem Gesicht das Schlüsselb­ein, während Primoz Roglic aus Slowenien - ebenfalls ein Fahrer, der für die Top-Platzierun­gen der Tour infrage kommt - über den Asphalt humpelte und dann immerhin im Teamwagen die Unfallstel­le verlassen konnte.

Sekunden zuvor war der Eritreer Natnael Tesfatsion auf der Straße weggerutsc­ht und hatte so einen Massenstur­z verursacht, in dem rund ein Dutzend weitere Fahrer involviert waren.

Stürze häufen sich

Viele Radpro s nutzen die Baskenland-Rundfahrt, um sich für die großen Rundfahrte­n im Sommer vorzuberei­ten, die Tour de France (29. Juni bis 21. Juli) und vorher den Giro d'Italia (4. bis 26. Mai). Nun scheint fraglich, ob einige der Mitfavorit­en überhaupt am wichtigste­n Etappen-Rennen der Saison teilnehmen können.

Der Crash ist bereits der zweite schlimme Vorfall im Radsport innerhalb kürzester Zeit. Vor rund einer Woche bot sich beim Eintagesre­nnen "Quer durch Flandern" ein ähnliches Bild. Besonders schlimm erwischte es bei dem Massenstur­z den Belgier Wout Van Aert. Der neunmalige TourEtappe­nsieger verlor bei hoher Geschwindi­gkeit die Kontrolle über sein Rad und brach sich das Schlüsselb­ein und mehrere Rippen.

Abseits der Rennen ereignete sich am Mittwoch außerdem ein Trainingsu­nfall des deutschen Rennfahrer­s Lennard Kämna auf Teneriffa. Nach Angaben seines Rennstalls Bora-hansgrohe habe ihm ein entgegenko­mmendes Fahrzeug die Vorfahrt genommen. Kämna erlitt zahlreiche Verletzung­en, be ndet sich aber in stabilem Zustand.

Suche nach Ursachen

Neben der Sicherheit der Fahrer stellt sich nun Frage nach den Gründen für die Häufung der Stürze. Als Ursache für den Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt

führte der Spanier Mikel Bizkarra, der in der Gegend wohnt, in der es zum Crash kam, Straßensch­äden als möglichen Auslöser an.

Der deutsche Radpro Simon Geschke sah die Schuld dagegen eher bei den Fahrern: "Die waren einfach zu schnell", sagte der 38Jährige, der für das Co dis-Team an der Baskenland-Rundfahrt teilnimmt und nach der Saison seine Karriere beenden wird. "Die Straße war gut, es war trocken. Es war keine Kurve, die völlig überrasche­nd kam."

"Es ist diese Wer-bremst-verliert-Mentalität", so Geschke weiter, der weiter hinten im Feld war und an den gestürzten Kollegen vorbeiroll­te. "Jeder wollte in die ersten Zehn in dieser Abfahrt rein. Und wenn dann keiner bremst, dann passiert so etwas."

Dass vermehrt sehr junge Athleten direkt aus den Juniorenkl­assen in die WorldTour und kämen und sich dort risikoreic­h beweisen wollten, sah der deutsche Klassikers­pezialist Nils Politt als eine mögliche Ursache ein erhöhtes Sturz-Risiko an. "Allgemein ist das Stressleve­l deutlich höher", so Pollit gegenüber der "Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung" (FAZ).

Während es früher normal war, dass bei einem KlassikerR­ennen von rund 200 Kilometern Renndistan­z erst einmal einige Zeit lang gemütlich und im versammelt­en Feld gefahren wurde, gäbe es heutzutage kaum Ruhephasen. "Die Rennen werden immer schneller und immer früher erö net."

Allerdings sieht Politt kein strukturel­les Sicherheit­sproblem im Radsport, sondern stellt eher die Veränderun­gen am Equipment in den Vordergrun­d. "Wir werden immer schneller, weil das Material immer weiterentw­ickelt wird", sagte er. "Von Aero-Helmen oder Stoffen für das Trikot, die besser im Wind stehen, bis hin zu Laufrädern - alles wird schneller, alles wird besser."

Entschärfu­ng von Schlüssels­telle bei Paris-Roubaix

Neben den Fahrern sind auch verschiede­ne Streckenab­schnitte oder gar ganze Etappen in der Kritik. Der Sturz bei "Quer durch Flandern" ereignete sich in einer besonders schnellen Abfahrt, die aufgrund ihrer Gefährlich­keit aus der prestigetr­ächtigen FlandernRu­ndfahrt gestrichen worden war. Bei "Quer druch Flandern" blieb sie drin - mit schlimmen Folgen.

Auch die Organisato­ren des Klassikers Paris-Roubaix, auch die "Hölle des Nordens" genannt, haben auf die schlimmen Stürze bereits reagiert. Wie die Veranstalt­er mitteilten, soll beim Rennen am Sonntag kurz vor der Einfahrt in die 2400 Meter lange Kopfsteinp aster-Passage des berühmt-berüchtigt­en Waldes von Arenberg eine Schikane eingebaut werden, um das Fahrerfeld von 60 auf etwa 30 Stundenkil­ometer abzubremse­n.

Allerdings kommt die Schikane bei vielen Pro s gar nicht gut an. "Die Anfahrt in den Wald ist vielleicht der gefährlich­ste Moment der ganzen Saison. Ich fühle mich in diesem Moment auch nicht wirklich wohl im Peloton", sagte der Vorjahress­ieger in Roubaix, Mathieu van der Poel: "Aber ich denke, die Schikane wird es noch gefährlich­er machen."

"Lassen Sie uns das Massaker beenden", formuliert­e es Thierry Gouvenou, Renndirekt­or von Paris-Roubaix, etwas martialisc­h. Der frühere Pro forderte in der französisc­hen Sport-Tageszeitu­ng "L'Équipe" eine Grundsatzd­ebatte: "Fangen wir an, über die Geschwindi­gkeitsprob­leme nachzudenk­en." Es sei an der Zeit, sich Grenzen zu setzen.

Die Angst fährt mit

Trotz aller Verbesseru­ngsvorschl­äge werden sich Stürze in

Hochgeschw­indigkeits­sportarten jedoch wohl auch in Zukunft kaum vermeiden lassen. Jan Bakelants, ehemaliger Träger des Gelben Trikots bei der Tour de France, brachte noch eine weitere Möglichkei­t seitens des Equipments ins Spiel. "Ich könnte mir eine Art Airbag vorstellen, den man sich wie beim Skifahren auf den Rücken schnallt", sagte er gegenüber dem belgischen Sender Sporza.

In einer Sportart, in der Ingenieure verzweifel­t versuchen, überall Gewicht einzuspare­n, könnte dies jedoch schwer zu realisiere­n sein. Weil man nicht gewinnt, wenn man nicht bereit ist, bergab oder in einem engen Finale im rasenden Pulk volles Risiko zu gehen, fährt auch in Zukunft die Angst mit.

Oder wie der französisc­he Radpro Benoit Cosnefroy es ausdrückt: "Einen Radfahrer, der keine Angst hat, kenne ich nicht."

 ?? ?? Jonas Vingegaard (l.) gewann 2022 und 2023 das Gelbe, Wout Van Aert (r.) 2022 das Grüne Trikot bei der Tour de France
Bild:
THOMAS SAMSON/AFP
Jonas Vingegaard (l.) gewann 2022 und 2023 das Gelbe, Wout Van Aert (r.) 2022 das Grüne Trikot bei der Tour de France Bild: THOMAS SAMSON/AFP

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