Deutsche Welle (German edition)
Wohnungsnot: "Sozialwohnungwie ein Lottogewinn!"
Der Alptraum von Amir Schra (Name von der Redaktion geändert) beginnt ziemlich genau am 24. Dezember 2022. An dem Tag attert bei dem alleinerziehenden Vater aus Afghanistan, der schon seit mehr als 16 Jahren in Deutschland lebt, die
Kündigung seiner Mietwohnung in der Nähe von Bonn wegen angeblichen Eigenbedarfs herein. Was folgt, ist das Schicksal, welches ihn derzeit mit Hunderttausenden in Deutschland verbindet: die monatelange, verzweifelte Suche nach einer bezahlbaren Wohnung.
Mit Dutzenden unbeantworteten Schreiben, hunderten konkurrierenden Mitbewerbern und schier endlosen Schlangen für einen Besichtigungstermin. Sofern man überhaupt das seltene Glück hat, dazu eingeladen zu werden. Nur um kurze Zeit später die Standardantwort zu bekommen: "Es tut uns leid, wir haben uns für jemand anders entschieden!" Schra hat gegen die Kündigung geklagt und sagt gegenüber der DW: "Die Wohnungslage ist Deutschland wird immer dramatischer."
Wie explosiv die Lage am deutschen Wohnungsmarkt tatsächlich ist, zeigt der Blick auf die Zahlen: Über 800.000 Wohnungen fehlen in Deutschland, Tendenz steigend. Mehr als 9,5 Mil
lionen Menschen, vor allem Alleinerziehende und deren Kinder, leben auf beengtem Wohnraum, so das Statistische Bundesamt. Das ambitionierte Ziel der Bundesregierung, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen inklusive 100.000 Sozialwohnungen zu bauen, ist wegen hoher Zinsen und Baukosten in weiter Ferne.
400.000 neue Wohnungen pro Jahr - Ziel unerreichbar
Laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut ifo waren es 2023 rund 245.000 Wohnungen, dieses Jahr werden es sogar nur 210.000 sein. Weil das Angebot an Wohnraum hierzulande klein ist, die Nachfrage aber riesig, schießen außerdem die Mietpreise in die Höhe. Und immer mehr Menschen wie auch Amir Schra wenden sich in ihrer Verzweiflung an
Organisationen wie den Deutschen Mieterbund, der sich für die Interessen der Mieter einsetzt.
Peter Kox, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes Bonn/Rhein-Sieg/Ahr, sagt gegenüber der DW: "In den großen Kommunen Düsseldorf, Köln oder Bonn hätten mittlerweile fast 50 Prozent der Menschen von ihren Einkommensverhältnissen her einen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein; also eine mietpreisgebundene Wohnung. Es sind heutzutage eben nicht nur die ' üblichen‘ Bürgergeldempfänger, die sonst häu g unser Beratungsangebot aufsuchen, sondern auch die Mitte der Gesellschaft."
"Wohnen soziale Frage des 21. Jahrhunderts" - mehr als eine Phrase?
Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz davon spricht, dass Wohnen die entscheidende soziale Frage in Deutschland sei, dann hat das einen Grund: Um den knappen bezahlbaren Wohnraum kämpfen mittlerweile nicht nur Alleinerziehende mit Kindern, Arbeitslose, Studierende und Ge üchtete, sondern auch zunehmend die Mittelschicht. Sozialer Sprengsto .
Kox berichtet, dass seine Organisation mittlerweile den Rekordwert von fast 25.000 Mitgliedern erreicht hat, und jeden Tag würden es mehr. "Die Menschen sind schon sehr verzweifelt. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass nicht nur solche mit akut neuen Problemen zu uns kommen, die beispielsweise eine Energiekostennachzahlung haben, von denen sie gar nicht wissen, wie sie diese bezahlen können."
Jetzt würden sich auch Mitglieder melden, von denen Kox jahrelang nichts gehört habe, und die nun Wohnraum suchten: "Zum Beispiel durch Kündigungen, also die Versuche von Vermieterinnen oder Vermietern, ihre Mieterinnen und Mieter loszuwerden, um die Wohnung dann im Zweifelsfall teurer neu vermieten zu können."
Auch die Zahl der Wohnungslosen steigt
Und dann sind da noch die, die beim Wettkampf um Wohnraum auf der Strecke bleiben. Menschen, die draußen campieren, oder, wie Kox berichtet, als Wohnungslose von Freund zu Freund ziehen oder in städtischen Unterbringungen übernachten. Der Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes in Bonn schätzt ihre Zahl auf mittlerweile 3500 in seiner Region. Zehnmal so viel wie noch vor ein paar Jahren. Sein dringender Appell: "In den nächsten 20 Jahren werden etwa 30.000 Menschen nach Bonn ziehen, und für die brauchen wir 15.000 Wohneinheiten. Und davon 10.000 öffentlich geförderte Wohnungen, wenn man davon ausgeht, dass bei einem gesunden Wohnungsmarkt 12 bis 14 Prozent aller Wohnungen öffentlich gefördert und mietpreisgebunden sind."
Deutschland - Land der Mieter
Deutschland ist Mieterland und mit Abstand Spitzenreiter in Europa. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt nicht in den eigenen vier Wänden; es ist das einzige Land in der Europäischen Union mit mehr Mietern als Eigentümern. Doch Deutschland zahlt jetzt teuer für seine politischen
Fehler der Vergangenheit: Der Bund hatte tausende Wohnungen an private Investoren verkauft, die Bundesländer sich gleichzeitig massiv aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen.
Matthias Bernt, Experte für Wohnraumpolitik, sagt gegenüber der DW: "Wir hatten früher 4 Millionen Sozialwohnungen und 15 Millionen Mieterhaushalte, das heißt ein Verhältnis von 1:4. Heute haben wir eine Million Sozialwohnungen und 21 Millionen Mieterhaushalte, also ein Verhältnis von 1:21. Wer irgendwie jetzt eine Sozialwohnung bekommen kann, hat im Lotto gewonnen."
Bernt ist kommissarischer Leiter des Forschungsschwerpunkts „Politik und Planung" am LeibnizInstitut für Raumbezogene Sozialforschung. Er beobachtet, dass die Wohnungskrise vor allem in den Groß- und Universitätsstädten besonders ausgeprägt ist. In der Hauptstadt Berlin zum Beispiel gebe es immer mehr Airbnb-Wohnungen. Gleichzeitig sei die Miete für Neuvermietungen im Durchschnitt ungefähr doppelt so hoch wie die Miete für Bestandswohnungen.
Mietpreisbremse wird oft ausgebremst
Die Bundesregierung versucht verzweifelt, dagegen zu steuern und hat jetzt die Mietpreisbremse bis 2029 verlängert. Bei Abschluss eines neuen Mietvertrages darf demnach die Miete nicht mehr als zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Allerdings gibt es Ausnahmen für Neubauten, umfassend modernisierte oder auch teilmöblierte Wohnungen.
Schlupflöcher, die laut Berndt