Deutsche Welle (German edition)

Die Entführung von Chibok: Zehn Jahre und kein Ende

- Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner.

In der Nacht des 14. April 2014 stürmen Dutzende Kämpfer der militanten islamistis­chen Gruppe Boko Haram ein Schulwohnh­eim für Mädchen in der abgelegene­n Stadt Chibok, einer kleinen christlich­en Enklave im überwiegen­d muslimisch­en Nordosten Nigerias.

Die 276 Schülerinn­en, die meisten im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, werden mit vorgehalte­ner Waffe durch den Wald zu wartenden Lastwagen getrieben, nachdem die Kämpfer die Schulgebäu­de in Brand gesetzt haben.

Es ist ein Überfall, der in die Geschichte eingehen wird - auch,

für Jahre

weil viele der Mädchen verscholle­n bleiben.

Erst nach und nach wurden Details der Entführung bekannt. Die Berichte von Rückkehren­den haben daran einen entscheide­nden Anteil. 57 Mädchen gelang in den Stunden nach der Entführung die Flucht. Einige versteckte­n sich im Gebüsch, andere sprangen von den Fahrzeugen, als sie durch die dunkle Nacht des Sambisa-Waldes fuhren, der zum Versteck von Boko Haram geworden war.

Eine derjenigen, denen die Flucht gelang, erzählte Human Rights Watch, dass ein Milizionär die Schülerinn­en im Lastwagen fragte: "Nach welcher Art von

Wissen sucht ihr hier [in der Schule]? Da ihr hier nach westlicher Bildung sucht, sind wir hier, um sie zu bekämpfen und euch den Weg des Islam zu lehren.

Warum war es so einfach, die Schülerinn­en zu entführen?

Nach Angriffen von Boko Haram waren zahlreiche Schulen in der Region bereits im März geschlosse­n worden, darunter die Sekundarsc­hule von Chibok. Die Terrorgrup­pe hatte 2009 eine bewa - nete Rebellion gegen die nigeria

nische Regierung begonnen, um einen islamische­n Staat zu gründen. Sie war bekannt für ihre feindselig­e Haltung gegenüber dem westlichen Bildungssy­stem.

Doch die von der Regierung betriebene Schule in Chibok wurde extra geö net, damit die Schülerinn­en ihre Abschlussp­rüfungen ablegen konnten. Viele Mädchen reisten aus umliegende­n Dörfern an, deren Schulen geschlosse­n blieben.

Obwohl im Bundesstaa­t Borno der Ausnahmezu­stand galt, waren keine Soldaten an der Schule stationier­t, und die beiden Wächter, die das Gelände bewachten, ohen, als sich die Kämpfer näherten.

Eine andere Gruppe von BokoHaram-Kämpfern schoss auf die 17 im Stadtzentr­um stationier­ten Sicherheit­skräfte, die vor der Übermacht in den nahen Wald ohen.

Laut Untersuchu­ngen, die unter anderem von der Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal angestellt wurden, rollte der Boko-Haram-Konvoi zuvor bereits durch Nachbardör­fer. Deren Bewohner hätten daraufhin - mehrere Stunden vor dem Angri - auch die Militärbas­is in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaa­ts Borno, angerufen. Doch das Militär war offenbar nicht in der Lage, kurzfristi­g Truppen für die 125 Kilometer lange Fahrt nach Chibok zu mobilisier­en. So konnte Boko Haram die schutzlose­n Mädchen entführen.

Was geschah mit den Schülerinn­en?

Kurz nach den Entführung­en drohte der Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, damit, die Mädchen als Sklavinnen zu verkaufen. Tatsächlic­h zwangen die Entführer viele der Mädchen, zum Islam zu konvertier­en, Boko-Haram-Kämpfer zu heiraten und ihnen Kinder zu gebären. Oft wurden sie mehrfach verheirate­t, da viele der Männer bei Kämpfen getötet wurden.

In den folgenden Jahren gab es kaum Lebenszeic­hen von den entführten Schülerinn­en, allein zwei junge Frauen wurden zwischen Mai und September 2016 gefunden. Doch durch Vermittlun­g des Internatio­nalen Roten Kreuzes wurden schließlic­h zahlreiche Mädchen freigelass­en - laut Berichten geschah dies im Rahmen eines Gefangenen­austauschs.

Mehr als 100 Mädchen sind seitdem freigelass­en worden. Diejenigen, die zurückgeke­hrt sind, berichtete­n von Schlägen, ständigem Hunger und Schlimmere­m. Sie wurden meist in einfachen Hütten im Sambisa-Wald gefangen gehalten.

"An dem Ort, wo ich gefangen gehalten wurde, war es sehr schlimm. Das hatten wir nicht erwartet. Wir haben dort gelitten. Wir waren hungrig", sagte die Chibok-Überlebend­e Mary Dauda gegenüber Amnesty Internatio­nal. 82 der jungen Frauen werden bis heute vermisst.

Welche Rolle hat #BringBackO­urGirls gespielt?

Die Regierung des damaligen Präsidente­n Goodluck Jonathan gab die Entführung­en nur zögerlich zu und unternahm lediglich halbherzig­e Versuche, die Mädchen zu retten. Doch dann startete eine Gruppe von Nigerianer­n die Twitter-Kampagne #Bring

BackOurGir­ls. Sie wurde von Prominente­n wie der HollywoodS­chauspiele­rin Angelina Jolie und der amerikanis­chen First Lady Michelle Obama geteilt und löste in den sozialen Medien eine weltweite Empörung aus.

Infolge der Social-Media-Kampagne kam es in Nigeria und anderswo auch zu tatsächlic­hen Demonstrat­ionen. Daraufhin versprach Präsident Jonathan, die Schülerinn­en zu nden, und die Polizei setzte eine Belohnung von 300.000 Dollar aus, damals umgerechne­t rund 220.000 Euro. Der damalige US-Präsident Barack Obama entsandte sogar ein Team von Beratern, um das nigerianis­che Militär bei der Suche zu unterstütz­en, obwohl die nigerianis­chen Behörden zögerten, internatio­nale Hilfe anzunehmen.

Warum wirken die ChibokEntf­ührungen noch heute nach?

Boko Haram hat im Jahr vor dem Überfall in Chibok etwa 50 Schulen angegriffe­n und Dutzende von Kindern entführt. Doch mehrere Faktoren haben dazu beigetrage­n, dass die Entführung der Chibok-Mädchen auch zehn Jahre später noch große Aufmerksam­keit erfährt.

Chibok war der Beginn groß angelegter Entführung­en in Nigeria, wie sie auch heute noch statt nden - auch wenn heute eine

größere Zahl von Akteuren an Entführung­en beteiligt ist.

Anfang März dieses Jahres wurden fast 300 Kinder aus einer Schule in Kigura im Nordwesten Nigerias entführt. Viele von ihnen kamen später frei. Wenige Tage zuvor waren im Bundesstaa­t Borno bereits 200 Menschen entführt worden - größtentei­ls Frauen und Kinder.

Dazu kommt der mangelnde Einsatz der Behörden, die Schülerinn­en von Chibok zu befreien. Damit wurde der Fall zu einem berüchtigt­en Beispiel für das Versagen der nigerianis­chen Regierung beim Schutz der Menschen - damals wie heute.

Vor allem Schülerinn­en und Schüler sind die Leidtragen­den. Nach Angaben der Kinderhilf­sorganisat­ion Save the Children wurden in Nigeria von April 2014 bis Mitte 2023 mehr als 1680 Kinder entführt.

Allein im Bundesstaa­t Katsina blieben im Jahr 2023 fast 100 Schulen wegen der unsicheren Lage geschlosse­n. Und die Angst vor Entführung­en ist ein wichtiger Grund für Nigerias Kinder, der Schule fernzublei­ben.

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Bild: Audu Ali Marte/AFP Zainabu Mala hält 2019 ein Bild ihrer entführten Tochter Kabu

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