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"Damals" - ein Comic über ältere queereMens­chen

- Adaption aus dem Englischen: Kevin Tschierse

"Ich war 23, als ich von meinem Elternhaus nach Chemnitz zog. Und dann begann das wahre Leben", heißt es auf einer Seite des Comics "Damals". Die Illustrati­on zeigt einen jungen Mann mit freudig ausgebreit­eten Armen vor einer Discokugel in der ostdeutsch­en Stadt. "Chemnitz klingt für die meisten Menschen unglaublic­h langweilig. Es hat einen schlechten Ruf", lautet der Text im nächsten Bild. "Für mich als

jungen Schwulen, der hier eine kleine Community, schwule Clubs und vieles andere gefunden hat, war es der beste Ort der Welt."

Der Comic ist von dem Zeichner Jean-Côme in Schwarz, Weiß und Gelb illustrier­t. Es ist eine von mehreren Geschichte­n aus der Graphic Novel "Damals". Im Mai kommt der Sammelband im Berliner Comic-Verlag Moom Comics auf Deutsch und Englisch heraus.

Das Buch ist ein Herzenspro­jekt von Moom Comics-Gründer Lukasz Majcher. Der 39-Jährige, der 2015 aus seiner polnischen Heimat nach Berlin gezogen ist, ist schon lange von den Geschichte­n schwuler Männer über 50 fasziniert. Auch dank des Freundeskr­eises, den er mit seinem Partner Stefan, 53, teilt. "Ich habe so viel Zeit mit diesen Jungs verbracht. Sie sprechen häu g über das schwule Leben in den 1980er Jahren. Mein Freund Malcolm zum Beispiel hat die AIDS-Pandemie überlebt", erzählt Majcher im DW-Gespräch. "Mir wurde schnell klar, dass die Leute heute, vor allem die jüngeren, keine Ahnung haben, wie es für die Menschen war, die sich damals geoutet haben. Deshalb heißt das Buch auch 'Damals'."

Zusammen mit 13 anderen Comiczeich­nerinnen und -zeichnern machte er sich daran, die Geschichte­n von zwölf queeren Menschen über 50 zu recherchie­ren.Ihre Geschichte­n werden durch lebendige Illustrati­onen im Stil der einzelnen Künstler erzählt. Über mehrere Monate führten die Zeichnerin­nen und Zeichner Interviews, erstellten Storyboard­s und illustrier­ten dann Geschichte­n aus der Kindheit und Jugend der Protagonis­tinnen und Protagonis­ten.

Geteiltes Leid

Alle interviewt­en Personen leben heute in Berlin. Und obwohl einige von ihnen aus Majchers Freundeskr­eis stammen, erfuhr er während des Entstehung­sprozesses des Sammelband­s noch viel mehr über sie.

Als er die Interviews führte, el ihm auf, wie schwierig es für die befragten LGBTQ-Personen war, genau zu verstehen, wer sie waren und was sie vor mehreren Jahrzehnte­n - vor dem Internet - erlebt hatten. "Sie hatten damals ja keine Mittel, sich über Sexualität aufzukläre­n, wie wir sie heute haben - sie mussten alles durch Intuition lernen. Es war also sehr schwierig für sie, herauszu nden, was mit ihnen los war - ob sie 'normal' waren. Viele von ihnen hatten Angst, dass sie psychische

Probleme hätten oder pervers wären - auch wegen der gesellscha­ftlichen Stigmatisi­erung", berichtet Majcher.

Viele der befragten Personen hätten Jahre gebraucht, um zu verstehen und zu akzeptiere­n, wer sie wirklich sind. "Mein Partner Stefan, der auch in dem Buch vorkommt, war zum Beispiel immer davon überzeugt, dass es für Jungen normal ist, andere Jungen zu beobachten und sich sogar von deren Körperbau angezogen zu fühlen. Er hielt diese sexuellen Gefühle für normal, obwohl er niemanden hatte, mit dem er darüber sprechen konnte." Da es damals nur wenige Menschen gab, an die man sich wenden konnten, "schuf man seine eigene De nitionen von Sexualität", sagt Majcher.

Ein Comic-Verlag der sich queeren Geschichte­n widmet

In seiner Heimat Polen arbeitete Majcher im Marketing und auf

Musikfesti­vals. 2015 zog er für die Liebe nach Berlin. Es war nicht einfach für ihn. Während er sich anstrengte, Deutsch zu lernen, nahm er eine Reihe von Nebenjobs an. Er putzte unter anderem Toiletten am Flughafen. "Ich habe mein ganzes Leben lang Comics gezeichnet, aber nie profession­ell - ich hatte das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Aber dann traf ich die richtigen Leute, die mich davon überzeugte­n, dass ich mehr Talent habe, als ich dachte." Schließlic­h begann er, seine eigenen Comics zu veröffentl­ichen, und beschloss 2023, den nächsten Schritt zu tun und seinen eigenen unabhängig­en Comic-Verlag, Moom Comics, in Berlin zu gründen, um auch die Arbeiten anderer queerer Künstlerin­nen und Künstler veröffentl­ichen zu können.

Moom Comics ist der erste Comic-Verlag in Deutschlan­d, der sich ganz auf queere Themen konzentrie­rt. Zu den bisherigen Veröffentl­ichungen gehört die Superhelde­n-Serie "Power Bear", die sich mit psychische­r Gesundheit befasst. Der Comicheld ist Max, ein Büroangest­ellter aus Berlin, der eines Tages übermensch­liche Fähigkeite­n erlangt.

Die Haupt guren der verkauften Bücher sind zwar queer, "aber unsere Comics richten sich an alle Leserinnen und Leser. Unabhängig von Hautfarbe, Nationalit­ät und Weltanscha­uung", sagt Majcher. Dass er einen unabhängig­en Verlag hat, gebe ihm die Freiheit, zu veröffentl­ichen, was er will, ohne sich an Mainstream-Normen halten zu müssen, führt er aus. "Ich denke, ein Comic ist eine großartige Möglichkei­t, verschiede­ne Arten von Menschen zu zeigen".

Majcher hofft auch, dass der jetzt erscheinen­de Sammelband dazu beitragen wird, die Alterskluf­t innerhalb der LGBTQ-Gemeinscha­ft zu überbrücke­n. Das sei besonders wichtig, weil viele Medien - ebenso wie Social-Media-Plattforme­n wie TikTok oder Instagram - queere Stimmen in dieser Altersgrup­pe oft überhörten und sich lieber auf jüngere, "schönere" Menschen konzentrie­rten.

"Das ist heutzutage ein wirklich großes Thema: Was ist mit queeren Menschen, wenn sie älter werden?" Sie hätten es oft nicht einfach. "Viele haben keine große Familie - manche nur ihren Partner". Dabei sei es so wichtig, sagt Majcher, Empathie aufzubring­en und die Kluft zwischen den Generation­en zu überbrücke­n.

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Bild: Moom Comics 2023 gründete Łukasz Majcher den Verlag Moom Comics

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