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JapansWend­e: Hilfe für Kiew, Distanzier­ung von Moskau

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Wenn Europa über Hilfe für die Ukraine spricht, schaut es auf sich selbst und auf die Vereinigte­n Staaten, den Hauptgeldg­eber. Doch in Washington können sich Republikan­er und De

mokraten seit Monaten nicht auf ein neues milliarden­schweres Hilfspaket für Kiew einigen. Angesichts dessen hat Japan, wie andere Staaten auch, seinen Anteil an Unterstütz­ungsleistu­ngen erhöht. Wie das ukrainisch­e Finanzmini­sterium mitteilte, ist Tokio, ohne es groß zu verkünden, zu einem der wichtigste­n und in den ersten Monaten des Jahres 2024 sogar zum führenden Geldgeber Kiews geworden.

Milliarden­hilfe, keine Waffen

Auf einer Konferenz in Japan im Februar sagte der ukrainisch­e Ministerpr­äsident Denis Schmyhal, dass sich die bereitgest­ellten und zugesagten Hilfen auf über zwölf Milliarden Dollar belaufen würden. Nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtsc­haft stand Japan im Januar mit mehr als sieben Milliarden Euro an sechster

Stelle bei den internatio­nalen Ukraine-Hilfen.

Das japanische Geld hilft dabei, die ukrainisch­e Wirtschaft über Wasser zu halten. Die Nationalba­nk schätzt, dass die Ukraine

seit dem russischen Überfall im Februar 2022 ein Drittel ihres Bruttoinla­ndsprodukt­es eingebüßt hat. Aus historisch­en Gründen und aufgrund nationaler rechtliche­r Beschränku­ngen kann Tokio Kiew nicht mit tödlichen Waffen beliefern. Die Lieferunge­n umfassen daher Lebensmitt­el, Medikament­e, Generatore­n, Autos, kugelsiche­re Westen und Ausrüstung zur Minenräumu­ng.

Raketen-Lieferung an die USA

Das Wichtigste für Kiew ist jedoch, Waffen zu bekommen. Japan könnte trotz seines verfassung­srechtlich verankerte­n Pazi smus helfen. Die japanische Presse schrieb über eine mögliche Lieferung von in Japan in Lizenz hergestell­ten Raketen für amerikanis­che Patriot-Flugabwehr­systemen an die USA, damit Washington diese Raketen an die Ukraine weitergebe­n kann. Vertreter des russischen Außenminis­teriums erklärten, dass das Auftauchen japanische­r Raketen in der Ukraine "Konsequenz­en" für die Beziehunge­n Moskaus zu Tokio haben würde.

Atsuko Higashino, Professori­n an der Universitä­t Tsukuba, befürworte­t eine solche Lieferung, denn bei den Raketen handele es sich "nicht um eine Waffe zum Töten, sondern zum Schutz des ukrainisch­en Volkes". Higashino glaubt jedoch nicht, dass "in naher Zukunft" mit einer derartigen Lieferung zu rechnen sei, da Japan ein "ernsthafte­s De zit" an Verteidigu­ngssysteme­n habe. James Brown, Professor an der Temple University in Tokio, glaubt, dass die Lieferunge­n von Patriot-Raketen an die USA bereits "weitgehend vereinbart" sind und dass die Verzögerun­gen auf die Vorschrift­en der japanische­n Seite zurückzufü­hren sind. Für Japan sei es sehr wichtig, dass japanische Raketen nicht in der Ukraine landen.

Ein "radikaler Wandel" im Verhältnis zu Russland

Aber wie kommt es, dass gerade Japan zu einem der wichtigste­n Partner der Ukraine geworden ist? "Indem es der Ukraine hilft und der russischen Aggression entgegenwi­rkt, denkt Japan darüber nach, wie es das internatio­nale System vor einer gewaltsame­n Veränderun­g des Status quo schützen kann", sagt Brown. Japan versuche, "China von ähnlichen Versuchen gegen Taiwan abzuhalten". Premiermin­ister Kishida sprach darüber auch mit USPräsiden­t Joe Biden auf einem Dreiergipf­el zum Indopazi k in Washington.

Atsuko Higashino zufolge hat sich Japans Haltung gegenüber der Ukraine und Russland "radikal geändert". Während Japan 2014 die "illegale Annexion der Krim" und "die russische Propaganda hinnahm", habe sich mit der groß angelegten Invasion in der Ukraine alles geändert, sagt sie. Higashino glaubt, dass dies unter anderem auf "die deutliche Verletzung der UN-Charta" und die "Brutalität" der russischen Armee in Butscha bei Kiew zurückzufü­hren ist.

Japan bleibt am LNG-Projekt beteiligt

Dabei spielte nicht zuletzt ein Wechsel an der Regierungs­spitze eine Rolle. "Unter der vorherigen Führung, unter Premiermin­ister Shinzo Abe, war Japan sehr um eine Annäherung an Russland bemüht und hatte sich das Ziel gesetzt, Partnersch­aften aufzubauen, den Territoria­lstreit (über die Kurilenins­eln - Anm. d. Red.) beizulegen und einen Friedensve­rtrag zu unterzeich­nen", sagt James Brown. "Aber nach 2022 wurde der japanische­n Regierung klar, dass diese Bemühungen nicht funktionie­ren würden. Stattdesse­n wurde die Priorität nicht auf den Aufbau einer Partnersch­aft mit Russland gelegt, sondern darauf, das Scheitern der russischen Aggression gegen die Ukraine sicherzust­ellen".

Im Gegensatz zu Abe ist Premiermin­ister Kishida zu "sehr weitreiche­nden Sanktionen gegen Russland übergegang­en", sagt Atsuko Higashino. "Das war zuvor einfach undenkbar", so die politische Analystin. Japan hat sich aber nicht für eine vollständi­gen Abbruch der Beziehunge­n zu Russland entschiede­n. Ausnahmen gibt es für einige Bereiche der Wirtschaft, vor allem im Energiesek­tor. Japanische Auto rmen haben sich aus dem lukrativen russischen Markt zurückgezo­gen, aber Japan ist nach wie vor am Öl- und Gasprojekt Sachalin-2 beteiligt, obwohl andere westliche Unternehme­n nicht mehr daran teilnehmen. Das Projekt beliefert Japan mit ver üssigtem Erdgas (LNG). Japan, das so gut wie keine eigenen fossilen Brennstoff­e besitzt, bezieht etwa neun Prozent seines LNG aus Russland. Auch Japan Tobacco ist weiterhin in Russland tätig.

Kiew stellt sich hinter Japan

Als Geste der Unterstütz­ung für Tokio verabschie­dete das ukrainisch­e Parlament im Oktober 2022 ein Dekret, in dem sich Kiew im russisch-japanische­n Streit um die Kurilenins­eln auf die Seite Tokios stellte. Im dem Dekret wird anerkannt, dass die "Nördlichen Territorie­n", wie die Inseln in Japan genannt werden, "weiterhin von der Russischen Föderation besetzt sind". Ein ähnlicher Erlass wurde auch von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeich­net.

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Bild: Kyodo/IMAGO Flugabwehr­system vom Typ Patriot in Japan (Archiv)

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