Deutsche Welle (German edition)

Bürgermeis­ter als "Zielscheib­e des Hasses" in Deutschlan­d

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Sie sind das Gesicht der Politik vor Ort - doch oft bläst den kommunalen Politikern in Deutschlan­d ein heftiger Wind entgegen. Für Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier gibt es deshalb Anlass, zu warnen: "Wenn Bürgermeis­ter oder Gemeinderä­te bestimmte Reizthemen nicht mehr ansprechen, ihre Social-Media-Accounts löschen oder sogar ihr Amt oder Mandat niederlege­n, um sich und ihre Familie vor Anfeindung­en zu schützen; wenn Menschen, die gern kandidiere­n würden, davon Abstand nehmen, weil sie nicht zur Zielscheib­e des Hasses werden wollen, dann dürfen Demokratin­nen und Demokraten das nicht einfach achselzuck­end hinnehmen."

Mehr als 80 ehrenamtli­che Bürgermeis­terinnen und Bürgermeis­ter hatte der Bundespräs­ident am Donnerstag zusammen mit der Körber-Stiftung eingeladen. Unter dem Titel "Demokratie beginnt vor Ort" beschäftig­ten sie sich mit den Sorgen und Nöten der ehrenamtli­chen Politiker.

Alarmieren­de Zahlen

Die Körber-Stiftung gab für die Veranstalt­ung eine repräsenta­tive Umfrage beim Meinungsfo­rschungsin­stitut Forsa in Auftrag. Danach gaben 40 Prozent der ehrenamtli­chen Bürgermeis­ter und Bürgermeis­terinnen an, dass sie oder Personen aus ihrem Umfeld schon einmal wegen ihrer Tätigkeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffe­n wurden. Bei den hauptamtli­chen Mandatsträ­gern sind es sogar 57 Prozent laut einer Forsa-Umfrageaus dem Jahr 2021.

Aufgrund dieser Erfahrung hat mehr als jeder vierte ehrenamtli­che Bürgermeis­ter schon einmal darüber nachgedach­t, sich aus der Politik zurückzuzi­ehen - aus Sorge um die eigene Sicherheit.

Zudem berichten fast zwei Drittel der Befragten, dass sich in ihrer Gemeinde zunehmend Unmut und Unzufriede­nheit unter den Bürgerinne­n und Bürgern breit macht. 35 Prozent sehen im Rechtsextr­emismus in den kommenden Jahren eine große Herausford­erung für die eigene Gemeinde. Knapp jede und jeder Fünfte berichtet von vermehrt demokratie­feindliche­n Tendenzen. In Ostdeutsch­land stimmt sogar jede und jeder Vierte dieser Aussage zu. Ein Ergebnis, dass auch im Hinblick auf die drei Landtagswa­hlen in den östlichen Bundesländ­ern in diesem September Sorgen macht.

Es hätte auch Tote geben können

Michael Müller hat es in seinem Heimatort Waltershau­sen in Thüringen zu spüren bekommen. Vor dem Haus des SPD-Lokalpolit­ikers wurde im Februar ein Brandsatz gezündet.

Müller kann es immer noch nicht fassen. In der Tatnacht brannte erst das Auto vor dem Haus, dann geriet die Fassade in Brand. In dem Haus hatte Müller eine Familie mit zwei Kindern untergebra­cht. Zum Glück konnten sie sich retten. Später wird der Brandgutac­hter von einem gezielten Mordanschl­ag sprechen. Ermittelt wird nun wegen Mordversuc­hs.

An einen Zufall mag Müller nicht glauben. Er hatte erst wenige Tage zuvor zu einer Demonstrat­ion gegen Rechtsextr­eme aufgerufen. Michael Müller sieht diese Bedrohunge­n mit großer Sorge, denn "viele Leute überlegen, ist es wert, meine Freizeit zu opfern für diese Gesellscha­ft, die mich aber im Gegenzug bedroht?" Irgendwann, so seine Befürchtun­g, "wird es immer weniger Menschen geben, die ihre Freizeit opfern und als Stadträte, Gemeinderä­te, ehrenamtli­che Bürgermeis­ter arbeiten". Die würden dann " lieber etwas Schönes mit der Familie zu machen”, vermutet er.

Eine im Rahmen des Kompetenzn­etzwerks gegen Hass im Netz durchgefüh­rte repräsenta­tive Studie bestätigt ähnliches für die Debatte im digitalen Raum. Je stärker sie verroht, desto mehr

Menschen ziehen sich aus den Diskursen im Netz zurück.

Deutschlan­ds Kommunalpo­litiker fürchten sich - zu Recht

Henriette Reker, die Oberbürger­meisterin von Köln, entrann 2015 nur knapp dem Tod. Einen Tag vor der Wahl stach ihr ein fanatisier­ter Rechtsradi­kaler in den Hals. Andreas Hollstein, Bürgermeis­ter der Stadt Altena, wurde 2017 von einem aufgebrach­ten Flüchtling­shasser ebenfalls ein

Messer in den Hals gestoßen. Als 2019 der Kasseler Regierungs­präsident Walter Lübcke von einem Rechtsradi­kalen ermordet wird, rüttelt dies viele auf.

Langsam erfährt eine breitere Öffentlich­keit, was mancher Kommunalpo­litiker aushalten muss. Mal wird ein Galgen im Vorgarten aufgestell­t, ein Tierkadave­r liegt im Briefkaste­n, Hassposts werden versendet, in denen steht, man kenne die Wohnadress­e und die Schule der Kinder.

Die Mandatsträ­ger wehren sich

Um Durchzuhal­ten muss man vermutlich so überzeugt von seiner politische­n Arbeit sein wie die Bürgermeis­terin der brandenbur­gischen Stadt Zossen, Wiebke Şahin-Schwarzwel­ler. Die Liberale sagt der DW, dass sie schon während ihres Wahlkampfe­s 2019 offen bedroht worden sei. "Auch mein Ehemann, der türkischer Herkunft ist, war Ziel von Verleumdun­gen, die gegen mich gerichtet waren."

Doch die Kommunalpo­litikerin wehrt sich. Sie gehört zu denjenigen, mit denen Bundespräs­ident Steinmeier seit 2018 immer wieder zu diesem Thema in Kontakt steht. Denn anders als Spitzenpol­itiker werden Kommunalpo­litiker weder durch gepanzerte Limousinen, Personensc­hutz oder Gesetze ausreichen­d geschützt. Also kämpfen sie dafür, so gut vernetzt und informiert zu sein, dass wenigstens dies sie schützt. Daraus entstanden ist das Portal "Stark im Amt", das Kommunalpo­litikern Hilfestell­ung bietet. Staatsanwa­ltschaften, Polizeidie­nststellen und Behörden sind mittlerwei­le sensibilis­iert.

Eine neue Anlaufstel­le für bedrohte Kommunalpo­litiker

Im März 2022 stellte die Bundesregi­erung zehn Maßnahmen aus dem Aktionspla­n gegen Rechtsextr­emismus vor. Der Schutz von Mandatstra­genden ist eine davon. Deshalb soll es eine neue, bundesweit­e Anlaufstel­le für bedrohte Kommunalpo­litiker geben. Sie soll im Sommer dieses Jahres an den Start gehen.

Marcus Kober vom Deutschen Forum für Kriminalpr­ävention ist mit für die Umsetzung zuständig. Der DW sagt er: "Dem Gefühl entgegenzu­wirken, allein damit fertig werden zu müssen, ist ein ganz wichtiger erster Schritt." Der zweite Schritt sei dann zu klären, ob es eine Straftat ist, welche Behörde zuständig ist und die Angebote in einem mittlerwei­le relativ gut ausgebaute­n Hilfesyste­m aufzuzeige­n.

Für Marcus Kober benötigen die kommunalen Vertreter dringend Schutz. Denn sie würden den Kopf hinhalten für alle Entscheidu­ngen auf Landes- oder Bundeseben­e. Für ihn sind sie der wesentlich­e Motor des demokratis­chen Systems. Heißt, wenn der stottert, dann ist die Demokratie in Gefahr. Dem dürften wohl die meisten ehrenamtli­chen Bürgermeis­ter und Bürgermeis­terinnen beim Bundespräs­identen zustimmen.

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