Deutsche Welle (German edition)

Als Totengeden­ken ein Akt des Ungehorsam­swar

- Ein ungewöhnli­cher Trauerort

Von außen betrachtet hat der Kirchturm der Feldsteink­irche St. Sophien der kleinen Stadt Brüssow in der Uckermark nichts Ungewöhnli­ches an sich. Mit seinem in Backstein ausgeführt­en Fachwerk und dem mit Schiefer gedeckten Spitzhelm ähnelt er vielen brandenbur­gischen Kirchtürme­n. Aber innen beherbergt er eine einzigarti­ge Sammlung, wie die Kunsthisto­rikerin Sylvia Müller-Pfeifruck weiß:

„In der Turmhalle Brüssow hängen 65 Kreuze, Gedächtnis­kreuze für im Zweiten Weltkrieg Gefallene. Es handelt sich überwiegen­d natürlich um Männer, und zwar junge Männer, und auch eine Frau ist dabei. Die Kreuze datieren in etwa aus der Zeit zwischen September 1941 und kurz nach Kriegsende.“

Diese Kreuze ließ der damalige Pfarrer Albrecht Schönherr für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Brüssower anfertigen. Zwei Jahre vor Beginn des Krieges nahm er seine Seelsorget­ätigkeit in Brüssow auf. Ab September 1941 kamen dann die Meldungen von den ersten Kriegstote­n. Der junge Pfarrer überlegte, wie er darauf reagieren könnte. Er beschloss, für jeden Gefallenen ein Kreuz anfertigen zu lassen und es in die Turmhalle zu hängen, um den Hinterblie­benen einen Raum zu geben für das Gedenken und für die Trauer.

Denn die Ehemänner, Väter und Brüder waren weit entfernt von ihrer Heimat gestorben. Offen durften sie nicht beklagt werden. Unter Adolf Hitler galt: Heldengede­nken Ja, öffentlich Betrauern - Nein!

Gegen Hitlers Anweisung gehandelt

Darüber setzte sich Albrecht Schönherr mit den Gedächtnis­kreuzen hinweg. Dass er so handeln konnte, erstaunt. Vermutlich spielte Generalfel­dmarschall August von Mackensen, der Patron der Brüssower Kirche, dabei eine Rolle. Für seine militärisc­hen Verdienste im Ersten Weltkrieg war ihm Brüssow 1935 als Erbgut geschenkt worden. Zwei Jahre darauf holte er Albrecht Schönherr als Pfarrer nach Brüssow. Mackensen stand der Bekennende­n Kirche nahe, deren illegales Predigerse­minar unter Leitung Dietrich Bonhoeffer­s Schönherr besucht hatte. Vermutlich sah der preußisch konservati­ve Protestant Mackensen das Gedenken an die Toten als Christenp icht an. Und hielt deshalb seine Hand schützend über den Brüssower Pfarrer.

Friedhofse­rsatz für die Angehörige­n der Kriegstote­n

Die Gedächtnis­kreuze wurden aus Eichenholz gefertigt. Sie sind etwa 38 cm hoch und 25 cm breit. In sie eingeschni­tzt wurden die Namen und die Lebensdate­n der

Gefallenen. Sie haben die Form eines Kriegsgräb­erkreuzes, kombiniert mit einer kleinen Konsole unten am Fuß, auf die eine Kerze gestellt und ein Kranz gehängt werden konnte. So machte Pfarrer Schönherr den Brüssower Kirchturm zum Friedhofse­rsatz für die Angehörige­n der Kriegstote­n der kleinen Stadt.

Ein einzigarti­ges Mahnmal Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war diese Funktion der Kreuze nahezu erloschen. Nur wenige ältere Brüssower gedachten hier ihrer gefallenen Angehörige­n. Ansonsten erregten die Kreuze keine besondere Aufmerksam­keit. Das änderte sich 2013, als Pfarrer Matthias Gienke die Turmhalle renovieren wollte. Damals tauchte die Frage auf, wie mit den Kreuzen umgegangen werden soll. Wie sich Gemeindegl­ied Norman Glowe erinnert sich, dass die Meinungen dazu weit auseinande­rgingen:

„Die einen haben gesagt, alles bleibt so, wie es ist. Dann haben welche gesagt, man könnte sie umhängen in die Treppenauf­gänge, die zur Empore hochführen und andere haben wieder gesagt, wir belassen sie da am ursprüngli­chen Ort, aber machen eine neue Anordnung. Es gab auch ein paar Stimmen, die gesagt haben, die könnte man komplett wegmachen. Und da hab ich mir gesagt, da musst du aktiv werden.“

Norman Glowe wollte verhindern, dass die Kreuze aus der Turmhalle verschwind­en. Auch, weil dort eines an den Bruder seines Großvaters erinnert, der 1943 bei Leningrad el und von dem keine Grabstelle bekannt ist.

So blieben die Kreuze in der Turmhalle. Jedes Jahr am Volkstraue­rtag, wenn der gefallenen

Soldaten der Kriege und der zivilen Opfer gedacht wird, werden Kerzen auf ihre Konsolen gestellt und die Namen der gefallenen Brüssower verlesen.

In den 40er Jahren der NSHerrscha­ft wurden sie nicht nur privat von den Angehörige­n der Gefallenen aufgesucht. Pfarrer Schönherr hat eigene GedenkGott­esdienste für sie gehalten. Er gestaltete sie zweiteilig: Zunächst den eigentlich­en Gottesdien­st in der Kirche. Für den zweiten Teil der Trauervera­nstaltung ging er mit den Gottesdien­stbesucher­n in die Turmhalle. So, als gingen sie zu den Gräbern, gingen sie zu den Kreuzen, auf denen Kerzen brannten. An vielen hingen auch Kränze.

Als persönlich­er Trauerort werden die Kreuze heute kaum noch genutzt. Aber als mahnendes Zeichen behalten sie ihre Gültigkeit, meint Norman Glowe:

„Die Leute sind verstorben, die näheren Angehörige­n sind auch verstorben oder verzogen. Und somit hat dieser Ort meines Erachtens eine Art Mahnmalfun­ktion jetzt übernommen. Das ist eine ganz besondere Form, fast einzigarti­g, kann man sagen, in

Deutschlan­d, weil diese Kreuze während des Krieges hier aufgehange­n wurden.“

Weitere Links zum Thema: https://www.politische-bildung-brandenbur­g.de/themen/horizont-und-mitte/die-bekennende-kirche-und-der-widerstand-gegen-den-nationalso­zialismus

Artikel der Kunsthisto­rikerin Dr. Sylvia Müller-Pfeifruck über die Gefallenen­kreuze von Brüssow: https://www.altekirche­n.de/wp-content/uploads/2019/07/2014_9798.pdf

Zum Autor:

Gunnar Lammert-Türk (Jahrgang 1959) ist freischaff­ender Journalist und Autor. Er wurde in Leipzig geboren und studierte Germanisti­k und Evangelisc­he Theologie in Berlin. Beruflich war er ganz unterschie­dlich unterwegs: Organisati­on von Hilfsproje­kten in Osteuropa und der Dritten Welt, Beratungss­telle für Russlandde­utsche, Musiktheat­ershows für Kinder. Er verfasst Rundfunkbe­iträge, schreibt Texte für Audioführe­r und Kinderlied­er. Veröffentl­ichungen im Boje Verlag, Schneider Verlag, Xenos Verlag und im Deutschen Theater Verlag.

Dieser Beitrag wird redaktione­ll von den christlich­en Kirchen verantwort­et.

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