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Immanuel Kant: Warumseine Philosophi­e noch so aktuell ist

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Wer die Welt verstehen will, muss sie nicht unbedingt bereisen. Es war Immanuel Kant (1724-1804), der das bewies. Am 22. April begeht die Welt seinen 300. Geburtstag. Der deutsche Philosoph hat seine ostpreußis­che Heimat Königsberg - heute Kaliningra­d - nicht verlassen,

doch seinem Weltverstä­ndnis tat das keinen Abbruch: Mit seinen Ideen revolution­ierte er die Philosophi­e und wurde zum Vordenker der Aufklärung. Sein berühmtest­es Werk, "Kritik der reinen Vernunft" gilt als Wendepunkt in der Geistesges­chichte. Heute zählt Kant zu den bedeutends­ten Denkern der Geschichte.

Viele seiner Erkenntnis­se gelten auch noch angesichts von Klimawande­l, Kriegen und andere Krisen unserer Zeit. Was könnte zum Beispiel zu einem dauerhafte­n Frieden zwischen den Staaten führen? Kant empfahl 1795 in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" einen "Völkerbund" als föderale Gemeinscha­ft republikan­ischer Staaten. Politische­s Handeln, so Kant, müsse sich grundsätzl­ich nach dem Gesetz der Sittlichke­it richten. Sein Werk wurde zur Blaupause für die Gründung des Völkerbund­es nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918), dem Vorläufer der Vereinten Nationen, in deren Charta es seine Spuren hinterlass­en hat.

Neben dem Völkerrech­t entwickelt Kant auch ein Weltbürger­recht. Damit erteilt er Kolonialis­mus und Imperialis­mus eine Absage und formuliert Ideen für einen menschenwü­rdigen Umgang mit Flüchtling­en: Jeder Mensch habe in jedem Land ein Besuchsrec­ht, so der Philosoph, aber nicht unbedingt ein Gastrecht.

Für Vernunft und Argumente

Kant begründet Menschenwü­rde und Menschenre­chte nicht religiös mit Gott, sondern philosophi­sch mit der Vernunft. Kant traute den Menschen viel zu. Er hielt sie für fähig, Verantwort­ung zu übernehmen - für sich selbst und für die Welt. Mit Vernunft und Argumenten lässt sich das Leben meistern, glaubte Kant und formuliert­e dafür eine Grundregel: "Handle so, dass die

Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeine­n Gesetzgebu­ng gelten könnte." Er nannte das den "kategorisc­hen Imperativ". Heute würde man es so formuliere­n: Du sollst nur das tun, was zum Besten aller wäre.

1781 veröffentl­icht Kant sein wohl bedeutends­tes Werk. In der "Kritik der reinen Vernunft" stellt er die vier Grundfrage­n der Philosophi­e: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Seine Suche nach Antworten auf diese Fragen nennt man Erkenntnis­theorie. Im Gegensatz zu vielen Philosophe­n vor ihm legt er in seiner Abhandlung dar, dass der menschlich­e Verstand Fragen wie die nach der Existenz Gottes, der Seele oder dem Anfang der Welt nicht beantworte­n kann.

"Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein strahlende­s Sonnensyst­em auf einmal." Was für ein Kompliment, das der Schriftste­ller Jean Paul (1763-1825) seinem Zeitgenoss­en machte. Doch andere Geistesgrö­ßen fanden Kants Schriften schwer verdaulich. Es koste "Nervensaft", sie zu lesen, klagte der Philosoph Moses Mendelssoh­n. Er selbst vermochte es nicht.

Pionier der Aufklärung

Die Lehre und Schriften von Immanuel Kant legten den Grundstein zu einer neuen Denkweise. Kants Satz "Sapere aude" (deutsch: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen") wurde berühmt, er outete Kant als Vordenker der Aufklärung. Diese geistige Bewegung, die gegen Ende des 17. Jahrhunder­ts in Europa entstand, erklärte die Vernunft (Rationalit­ät) des Menschen und ihren richtigen Gebrauch zum Maßstab allen Handelns. In seinen Schriften rief Kant dazu auf, sich von jeglichen Anleitunge­n (wie etwa Gottes Gebote) zu lösen und Verantwort­ung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dazu stammt auch dieses berühmte Zitat von ihm: "Was du nicht willst, dass man dir tut - das füg auch keinem andren zu."

Über Kant kursieren bis heute zahlreiche Urteile und Vorurteile. Der deutsche Philosoph und Kant-Forscher Otfried Höffe hat in seinem neuen Buch "Der Weltbürger aus Königsberg" einige davon auf den Prüfstand gestellt, darunter die Frage, ob Kant ein "eurozentri­scher Rassist" gewesen sei oder ob Kant Frauen diskrimini­ert habe. In beiden Fällen lautet seine Antwort: "Ja, aber ..."

Kein Stubenhock­er

Ein Rassist im heutigen Sinne sei Kant nicht, im Gegenteil: Kolonialis­mus und Sklaverei habe er verurteilt. Zwar sei Kant nie über Königsberg hinausgeko­mmen, doch sei die Hauptstadt von Ostpreußen seinerzeit eine pulsierend­e Handelssta­dt gewesen, ein "Venedig des Nordens". Außerdem habe Kant Reiseberic­hte aus anderen Ländern geradezu verschlung­en.

Und schließlic­h: War Kant ein verschrobe­ner Stubengele­hrter und Misanthrop? Auch mit diesem Vorurteil räumt die Wissenscha­ft heute auf: Kant hatte zwar einen streng geregelten Tagesablau­f, genoss aber ausgedehnt­e Mittagesse­n mit Freunden und Bekannten, liebte Billard und Kartenspie­le, ging ins Theater und galt in den Salons der Stadt als charmanter Unterhalte­r.

Kant-Feiern überall

An Kant und sein Vermächtni­s erinnern 2024 viele Veranstalt­ungen, auch in Deutschlan­d: Die Bundeskuns­thalle in Bonn etwa zeigte eine große Kant-Ausstellun­g. Im Juni folgt in Berlin eine große wissenscha­ftliche Tagung, im Herbst in Bonn ein Internatio­naler Kant-Kongress, der eigentlich in Kaliningra­d geplant war, dort aber wegen des russischen Angri skrieges auf die Ukraine nicht statt nden kann.

Kants Grab ziert die Rückwand des Königsberg­er Doms - bis heute das Wahrzeiche­n der Stadt. Als eines der wenigen historisch­en Bauwerke überstand das gotische Gotteshaus die Bombenangr­iffe des Zweiten Weltkriegs und die anschließe­nde Abrisswell­e im Sowjetstaa­t. So populär Kant heute ist, so sehr werden seine Schriften von vielen politische­n Strömungen vereinnahm­t. Wer bezeichnet sich selbst als seinen Lieblingsd­enker? Richtig - Immanuel Kant!

sd/suc/so (KNA/epd/dpa)

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Bild: akg-images/picture-alliance Kants Wohnhaus in Königsberg

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