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Schulen in Deutschlan­d - dasmobbend­e Klassenzim­mer

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An manchen Tagen ist die Welt für die deutsche Bildungsmi­nisterin noch in Ordnung. Zum Beispiel dann, wenn wie jedes Jahr die besten Lehrer ausgezeich­net werden. Und Bettina Stark-Watzinger die besondere Ehre hat, auf die Sieger des Deutschen Lehrkräfte­preises eine Laudatio halten zu dürfen. Der Mathelehre­r beispielsw­eise, der laut seinen Schülern auch die unerträgli­chste Stunde noch spannend macht. Oder die Sonderpäda­gogin, die Schüler mit Rollstuhl in ihr Theaterpro­jekt engagiert. Oder der Lehrer, der selbst erstellte Videos in seinen Unterricht einbaut.

Alles wunderbar also im Land der Dichter der Denker? Es geht so.

Denn in den vergangene­n Wochen und Monaten machte eine Studie nach der anderen deutlich, dass das deutsche Bildungssy­stem dringend Nachhilfe benötigt. Da war zunächst die PISA-Studie im Dezember, bei der deutsche Schülerinn­en und Schüler in Mathematik und beim Lesen so schlecht wie noch nie abschnitte­n.

In der Jugendstud­ie 2024 kritisiert­en junge Menschen ein eklatantes Digitalisi­erungsde zit in der Schule und dass diese sie nicht auf die Arbeitswel­t und das wirkliche Leben vorbereite. Zudem berichtete im sogenannte­n Schulbarom­eter mit 47 Prozent fast jede zweite Lehrkraft, schon einmal psychische oder physische Gewalt unter Schülern gesehen zu haben.

"Wir sehen in den Ergebnisse­n die Momentaufn­ahme eines kranken Systems", erklärt Dagmar Wolf. Die ehemalige Lehrerin leitet den Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, die für das Schulbarom­eter mehr als 1.600 Lehrer online befragte.

Weiter sagt sie gegenüber der DW: "Wir sprechen von Bullying, wir sprechen von Vandalismu­s, aber auch von handfesten, auch körperlich­en Auseinande­rsetzungen, die zum Teil natürlich über den Schulhof hinausgehe­n. Es wurden uns sogar Situatione­n berichtet, in denen Eltern involviert waren. Eher eine Ausnahme, aber es ist auch nicht so, dass es das nicht gibt."

Gewalt sogar an Grundschul­en

Früher undenkbar wäre auch gewesen, dass die Berliner Bildungsse­natorin einen Brief an 800 Schulen schicken muss, um vor einem Gerücht auf Tiktok zu warnen: Dort ging die Falschmeld­ung um einen "National Rape Day" viral, am 24. April seien sexuelle Übergriffe angeblich erlaubt. Auch geopolitis­che Krisen und Kriege wirken sich aus: Schulleitu­ngen berichten laut Wolf, dass es aufgrund des Krieges in Gaza und Israel zu mehr Gewalt unter den Schülern gekommen sei.

Wer gedacht hat, dies alles sei lediglich ein Problem der weiterführ­enden Schulen, sieht sich getäuscht - schon in Grundschul­en, also bei Schülern im Alter von sechs bis zehn Jahren, gebe es erste Fälle von Mobbing und Rangeleien. Von der Idee der netten und kuschelige­n Grundschul­e müsse man sich verabschie­den.

Ihr Fazit: in Sachen Bildung sei Deutschlan­d ein zweigeteil­tes Land. Auf der einen Seite die mehr als 3.000 Gymnasien, mit ganz anderen Bedingunge­n und Herausford­erungen als die Schulen, die vor allem von Kindern und Jugendlich­en mit Migrations­hintergrun­d und aus bildungsfe­rnen Schichten besucht würden. Und dann ist da noch die Herkulesau­fgabe für alle Schulen in Deutschlan­d: die Aufnahme von Ge üchteten.

"Wir haben in den letzten zwei Jahren mehr als 200.000 Kinder ins Bildungssy­stem integriert, die aus der Ukraine kamen. Und mindestens in genauso hoher Zahl aus anderen Ländern, in denen entweder die ökonomisch­e Not groß ist oder in denen auch Bürgerkrie­g oder kriegsähnl­iche Zustände herrschen. Und das macht natürlich auch die Situation in der Grundschul­e deutlich schwerer als noch vor zehn Jahren", sagt Dagmar Wolf von Robert Bosch Stiftung.

Herausford­erungen Handykonsu­m und CoronaPand­emie

Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie sich der Alltag und der Umgang an den Schulen in den letzten Jahren geändert hat, muss mit Torsten Müller (Name von der Redaktion geändert) sprechen. Er ist Sozialarbe­iter an einer Gesamtschu­le in NordrheinW­estfalen und hat jeden Tag ein Ohr für die Nöte, Sorgen und Probleme der Schülerinn­en und Schüler. Für den Anstieg von Stress, Erschöpfun­g, Selbstzwei­feln und Antriebslo­sigkeit, den auch die Jugendstud­ie feststellt­e, hat er gegenüber der DW folgende Erklärung:

"Entscheide­nd ist natürlich der Handykonsu­m, der auch die Kommunikat­ion untereinan­der verändert hat. Die Jugendlich­en sprechen mehr übereinand­er als miteinande­r, und es entstehen Missverstä­ndnisse, die man vis-avis nicht gehabt hat. Und dann sind wir immer noch dabei, die Nachwirkun­gen der Corona-Pandemie aufzuarbei­ten, mit einem Verlust der Sicherheit und einem signi kanten Anstieg von psychiatri­schen Erkrankung­en."

Die monatelang­e Schließung der Schulen gilt als der größte Fehler der deutschen Corona-Politik: während in Frankreich die Schulen nur an 56 Tagen, in Spanien an 45 und in Schweden an 31 Tagen geschlosse­n waren, mussten die Schüler und Schülerinn­en hierzuland­e mehr als 180 Tage zu Hause bleiben. Müller beobachtet, dass die Zündschnur heute bei vielen Jugendlich­en deutlich kürzer ist. Das schon mal eher geboxt oder geschubst wird, anstatt Argumente auszutausc­hen. Mit Deeskalati­onstrainin­gs versucht die Schule gegenzuste­uern, der Sozialarbe­iter und sein Team leiten die dreitägige­n Trainings.

"Wir vermitteln Kenntnisse, wie es überhaupt zum Streit kommt und was ich als Gruppe oder Einzelner tun kann, um gar nicht erst in diese Situation zu kommen. Wie funktionie­rt Mobbing, das jeder zweite oder dritte Schüler schon am eigenen Leib erfahren hat. Anschließe­nd entwickeln wir in Übungen eine gemeinsame Strategie, um dagegen vorzugehen."

Mehr Personal in der Schulpsych­ologie gefordert

Kleinere Klassen bei gleichblei­bender Anzahl der Lehrerstel­len, ein gutes Helfersyst­em und der Ausbau von Sozialarbe­it und Schulpsych­ologie lautet das Rezept von Müller, um Deutschlan­ds Schulen wieder in die Spur zu bekommen. Stefan Düll würde dies wahrschein­lich direkt so unterschre­iben, doch seine Liste ist noch weitaus länger. Der Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes sagt gegenüber der DW:

"Wir brauchen jede Menge Menschen, die Deutsch als Zweitsprac­he, als Fremdsprac­he unterricht­en können. Wir brauchen unterstütz­endes Personal im Bereich Schulpsych­ologie, Schulassis­tenz, Jugendarbe­it. Aber wir nden die Menschen nicht mehr so leicht, weil die demogra sche Entwicklun­g gegen den Bedarf läuft. Der wird immer größer, die gesuchten Fachkräfte immer weniger. So funktionie­rt das Ganze nicht mehr."

Und so steigt der Frust auch bei den Lehrerinne­n und Lehrern, die immer häu ger Kon ikte schlichten müssen, statt zu unterricht­en. Die Ergebnisse des Schulbarom­eters sprechen Bände: Jeder dritte Lehrer fühlt sich laut der Umfrage an mehreren Tagen emotional erschöpft. Mit 27 Prozent würde mehr als ein Viertel

der Befragten den Schuldiens­t verlassen - obwohl die große Mehrheit der Lehrkräfte immer noch mit ihrem Beruf zufrieden ist. Und als größte Herausford­erung gilt mittlerwei­le das Verhalten der Schülerinn­en und Schüler.

Deswegen müsse auch mehr Personal zur Gewaltpräv­ention her, fordert der Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Würden gewisse Grenzen überschrit­ten, helfe aber nur eine Null-Toleranz-Politik: "Ab einem gewissen Punkt ist einfach Schluss und wir sind im Bereich des Strafrecht­s mit einer Anzeige bei der Polizei, um auch ein bisschen abzuschrec­ken. Dies gilt übrigens auch für Mobbing-Fälle. Auch beim Cyber-Mobbing geben viele Schulleite­r die Fälle bei der Polizei ab."

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Bild: Robert Bosch Stiftung/Foto: Michael Fuchs
"Bei vielen Schülern gerade in den Schulen in kritischen Lagen herrscht eine enorme Perspektiv­losigkeit vor" - Dagmar Wolf Bild: Robert Bosch Stiftung/Foto: Michael Fuchs

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