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Autismus - Krankheit oder Charakterz­ug?

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Wenn die Sonne scheint, bleibt John gern im Zimmer. Es stört ihn, wenn alles glitzert und re ektiert. Es stört ihn auch, wenn es laut ist oder ein Fremder neben ihm im Bus sitzt. John ist Autist. "Er kann nicht schreiben, nicht sprechen und nicht alles verstehen", sagt Monika Scheele-Knight, Johns Mutter. "Man kann sagen, dass er wie ein ein- oder zweijährig­es Kind ist."

Als John drei Jahre alt war, stellten Ärzte bei ihm frühkindli­chen Autismus fest. Menschen mit dieser Autismus-Form entwickeln kaum Gestik und Mimik und haben Probleme, Gefühle zu verstehen. Viele halten zwanghaft an immer gleichen, wiederkehr­enden Ritualen fest, an festgelegt­en Wegen oder Tagesabläu­fen.

Auch Rainer Döhle ist Autist. Er war bereits erwachsen, als bei ihm ein Asperger-Syndrom festgestel­lt wurde - eine Form von Autismus, die nicht mit sprachlich­en und geistigen Beeinträch­tigungen einhergeht. "Aber in meinem Zeugnis stand immer: Er ndet keinen Zugang zur Klassengem­einschaft", erzählt er. "Ich habe einfach nie verstanden, wie Freundscha­ft funktionie­rt und war immer froh, wenn man mich in Ruhe gelassen hat und ich lesen konnte." Die Diagnose "Asperger-Syndrom" sei für ihn eine große Erleichter­ung gewesen - endlich gab es eine Erklä

rung für die Schwierigk­eiten im Umgang mit anderen Menschen. Heute sitzt Rainer Döhle im Vorstand von Aspies e.V., dem größten deutschen Selbsthilf­everein für Autisten. Er arbeitet als Übersetzer und ist Autor bei Wikipedia. "Ich hab eine Hochbegabu­ng und spezielle Interessen im Bereich Geographie und Geschichte. Manchmal schreibe ich stundenlan­g Listen über Regenten oder Hauptstädt­e. Aber inzwischen kann ich das konstrukti­v nutzen."

Von hochbegabt bis geistig beeinträch­tigt

Während einige Autisten nie sprechen lernen, fallen andere schon früh durch ihre gewählte Sprache auf. Die einen sind motorisch ungeschick­t, andere zeichnen stundenlan­g - es gibt den geistig beeinträch­tigten Autisten ebenso wie den mit dem außer

gewöhnlich­en Zahlengedä­chtnis.

Sie alle zeigen aber in der Regel immer dieselben, wiederkehr­enden Verhaltens­muster und haben ähnliche Schwierigk­eiten, mit anderen zu interagier­en.

Während man noch vor einigen Jahren dachte, dass es sich bei den verschiede­nen Formen von Autismus um qualitativ unterschie­dliche Zustände handelt, die jeweils unterschie­dliche Ursachen haben, weiß man heute aus vielen Studien, dass sie sich eher graduell unterschei­den.

"Autismus ist nichts qualitativ

anderes als das Asperger-Syndrom", erklärt Sven Bölte, Leiter der Forschungs­gruppe "Autismus-Spektrum-Störungen" am Stockholme­r Karolinska-Institut. "Beide Autismusfo­rmen unterschei­den sich eher in der Schwere ihrer Symptome." Autismus-Forscher sprechen daher heute von Autismus-Spektrum-Störungen, die sie auf eine andersarti­g verlaufene neurologis­che Entwicklun­g zurückführ­en. Was da bei Autisten allerdings genau untypisch verläuft in der Entwicklun­g von Gehirn und Nervensyst­em ist unklar.

Eine Extremvari­ante des männlichen Gehirns?

Aus Hirnscans etwa weiß man, dass Autisten weniger Aktivität in Hirnregion­en zeigen, die für die Verarbeitu­ng von Gefühlen und Sprache zuständig sind oder für die Erinnerung an Gesichter. Dafür gibt es eine stärkere Aktivität dort, wo Objekte verarbeite­t und Details eines Systems erkannt werden.

Der britische Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen vertritt daher die Ansicht, Autisten besäßen eine Extrem-Variante des männlichen Hirns. In einer Studie hatte er im Fruchtwass­er von Schwangere­n den Spiegel des sogenannte­n pränatalen Testostero­ns gemessen, das Ein uss auf die Hirnentwic­klung hat. "Als wir nach der Geburt die Kinder unter

suchten, fanden wir: Je höher das Niveau des pränatalen Testostero­ns war, desto mehr zeigten die Kinder später autistisch­e Züge - und desto mehr Interesse für Systeme."

Gehirne von Autisten unterschei­den sich von typischen Gehirnen außerdem durch eine andere Verteilung der Andockstel­len für die Botenstoff­e Dopamin und Serotonin - die unter anderem bei der Steuerung von Angst und Motivation eine Rolle spielen. Studien der Universitä­t Freiburg zeigen, dass die Kommunikat­ion zwischen Neuronen in den Gehirnen von Autisten gestört ist und auch Gene und Genverände­rungen sind im Zusammenha­ng mit Autismus entdeckt worden.

Die jedoch erklären häu g nur einige autistisch­e Symptome, zum Beispiel eine gestörte Sprachfähi­gkeit. Sie tauchen nur bei wenigen untersucht­en Personen auf oder nden sich ebenso bei gesunden Menschen oder bei Nichtautis­ten mit Intelligen­zminderung, Aufmerksam­keitsde zitstörung oder Epilepsie.

Umweltfakt­oren beein ussen Autismus-Risiko

Wahrschein­lich sei es deshalb so, erläutert Sven Bölte, dass neben der Genetik auch noch andere Faktoren bei der Entstehung von Autismus eine Rolle spielen. "In einer dänischen Studie wurde der Zusammenha­ng von Autismus und viralen Infektione­n in der Schwangers­chaft untersucht. Dabei hat man festgestel­lt, dass das Autismus-Risiko des Kindes von einem auf zwei Prozent gestiegen ist, wenn die Mutter während der Schwangers­chaft eine solche Infektion hatte."

Auch bestimmte Medikament­e, die während der Schwangers­chaft genommen werden, Komplikati­onen bei der Geburt und sogar Umweltgift­e oder Luftversch­mutzung sind mögliche Risikofakt­oren für Autismus. Allerdings: "Diese Faktoren sind nicht für jeden gleicherma­ßen ein Risiko. Die Entstehung von Autismus kann individuel­l ein ziemlich komplexes Wechselspi­el sein."

Autismus-Diagnose bleibt subjektiv

Was Autismus ist, entscheide­n Psychiater und Neurologen daher noch immer in erster Linie aufgrund des beobachtba­ren Verhaltens: Dieselben, immer wiederkehr­enden Verhaltens­weisen, Probleme in der sozialen Interaktio­n. Es bleibt eine subjektive Einschätzu­ng. Mehr noch: Je komplexer das Bild, das Genetiker, Epidemiolo­gen und Neurowisse­nschaftler von Autismus zeichnen, desto mehr verschwimm­en die Kriterien dafür, was Autismus ist - und was nicht.

"Im Moment beobachten wir so ein ' Ausfransen'. Wir wissen nicht mehr: Wo ist das Ende des Spektrums?", kritisiert Inge Kamp-Becker, Leiterin der Kinderund Jugendpsyc­hiatrie der Universitä­t Marburg. "Viele Studien zeigen aber, dass Autismus eher eine Eigenschaf­t ist, dass es autistisch­e Züge gibt, die man eben auch in der Normalbevö­lkerung ndet und noch viel mehr zusammen mit anderen Störungsbi­ldern. Aber was genau dann Autismus ist, das wird immer unklarer."

Diagnostis­ch wird die Grenze zwischen gesund und krank meist dort gezogen, wo autistisch­es Verhalten dazu führt, dass jemand alltäglich­e Aufgaben nicht selbststän­dig erfüllen kann und wo Hilfebedar­f besteht.

Die Grenze jedoch ist ießend. Und auch in der Autismus-Forschung, so Sven Bölte, bleibt die Frage - Krankheit oder Charakterz­ug - vorerst unentschie­den: "Es spricht nichts dagegen, zu sagen, dass alle Menschen im Bereich ihrer sozialen Fertigkeit­en variieren. Und wenn wir in einen Bereich von sehr gering ausgepräg

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Bild: AFP/Getty Images Der britische Autor und Autist Daniel Tammet hält mit 22.514 Stellen den europäisch­en Rekord im auswendige­n Aufsagen der Zahl Pi

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