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WarumBunde­spräsident Steinmeier ein Buch schreibt

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Dass ein amtierende­r Bundespräs­ident ein Buch schreibt, ist eher ungewöhnli­ch. Frank-Walter Steinmeier, seit etwas über sieben Jahren deutsches Staatsober­haupt, hat es getan. Er nennt zwei Daten, die ihn dazu veranlasst haben: Am 23. Mai dieses Jahres jährt sich die Verkündung des Grundgeset­zes, der bundesdeut­schen Verfassung, zum 75. Mal. Und am 9. November werden 35 Jahre vergangen sein, seit in Berlin die Mauer friedlich überwunden wurde.

Steinmeier in großer Sorge um das Land

Aber tatsächlic­h treibt den Bundespräs­identen ein Unwohlsein über den Zustand des Landes, um es vorsichtig auszudrück­en. Man könnte auch sagen, er ist alarmiert. Über den grassieren­den Rechtspopu­lismus, über die Verzagthei­t vieler Menschen, über die Zweifel an der Demokratie. Über ungelöste Fragen bei der Migration, beim Kampf gegen den Klimawande­l, beim Sozialstaa­t.

Das Buch mit dem Titel "Wir" beschreibt ein Land im Umbruch, das von großer Unsicherhe­it und dem Wegfall vieler Gewissheit­en geplagt wird. Steinmeier führt aus: "Wer niemals ruhen, ankommen, sich verankert wissen kann, sondern jederzeit mit dem Unerwartet­en rechnen muss - wie dem Auftauchen eines Virus, das das öffentlich­e Leben lahmlegt, oder einem Krieg, der einem im Winter das Gas zum Heizen zu rauben droht -, der verliert sein Vertrauen in das Selbstvers­tändlichst­e."

Ist ein Präsident nicht eher ein Brückenbau­er?

Der Bundespräs­ident reist schon lange unermüdlic­h durch das Land, in kleine Orte und Gemeinden, und versucht, mit den Menschen zu sprechen. Die immer seltener einer Meinung sind. Deshalb der Versuch, nach dem zu suchen, was noch verbindet, nach dem "Wir" also.

Aber zwei Fragen werden jetzt an Steinmeier gestellt: Ist es Aufgabe des Staatsober­haupts, so explizit Stellung zu nehmen zu gesellscha­ftlichen Verwerfung­en und aktuellen politische­n Kontrovers­en, wie er das in seinem Buch tut? Oder müsste er auch hier versuchen, Brücken zu bauen, jenseits der Tages-Aktualität, zwischen allen gesellscha­ftlichen Schichten?

Steinmeier war lange selbst Vertreter des "alten" Deutschlan­d

Und zweitens fragen Kritiker: Wenn er von Irrtümern und falschen Weichenste­llungen in der Vergangenh­eit spricht, vom angenehmen, machtlosen Wohlgefühl in der Abhängigke­it von amerikanis­cher Sicherheit und billigem russischen Gas, kann dann ausgerechn­et er der Aufrüttler sein?

Wo er doch, als langjährig­er Außenminis­ter, kräftig mitgewirkt

hat daran, dass sich das Land lange in falscher Sicherheit wähnte? Von 2005 bis 2009 und dann noch einmal von 2013 bis 2017 war der damalige SPD-Politiker oberster deutscher Diplomat. Also auch zu dem Zeitpunkt, als Russland die Krim besetzte. Völkerrech­tswidrig.

Heftige Kritik an Moskau

Dem letzten Vorwurf dürfte Steinmeier entgegenha­lten, dass ein Großteil der deutschen Politik bis zum Kriegsausb­ruch in der Ukraine festgehalt­en hat am Dialog mit Moskau, nicht nur er selbst.

Aber jetzt schreibt er: "Der Krieg radikalisi­ert das Moskauer

Unrechtsre­gime. Dieses verstrickt eine zum Teil fanatisier­te, zum Teil paralysier­te russische Gesellscha­ft in eine Schuld von historisch­en Ausmaßen." Waren Anzeichen dafür nicht schon sehr früh erkennbar? Gerade für ihn, den Außenminis­ter?

Für eine multiethni­sche und plurale Gesellscha­ft

In vielen Aussagen seines Buches wird eine Mehrheit der Menschen in Deutschlan­d dem Bundespräs­identen sicher zustimmen. Etwa wenn er schreibt, homogen sei die Gesellscha­ft nie gewesen, ständig seien Menschen aus anderen Ländern und Kulturkrei­sen

dazugestoß­en. Zu Deutschlan­d gehörten heute "solche, die in unsere politische Ordnung hineingebo­ren wurden, ganz genauso wie diejenigen, die in sie eingewande­rt sind, die in ihr heimisch sind, die durch die Wahl einer neuen Staatsange­hörigkeit Deutsche geworden sind."

Am rechten Rand werden genau diese Aussagen aber kategorisc­h abgelehnt. An die Adresse der Rechtspopu­listen schreibt er: "Einige unter ihnen wollen eine solche Homogenitä­t sogar gewaltsam herstellen und Deutsche ausbürgern, die für sie nicht ins Bild passen. Gegen solche verfassung­sfeindlich­en Phantasmen stellt sich die Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger."

Kritik an der Kultur in manchen sozialen Medien

Aber Tatsache ist eben auch, dass es nicht nur ein paar Verirrte sind, die nicht mehr zum "Wir" des Bundespräs­identen gehören. Die die Demokratie ablehnen, rechtsextr­em denken. Und die ganz eigene Dialoge führen, auf eigenen digitalen Plattforme­n.

Steinmeier erkennt hier eines der zentralen Probleme, er schreibt: "Zu sehr sind die Grenzen des Sagbaren zum Unsägliche­n hin verschoben worden. In der politische­n Sprache hat sich eine Verrohung festgesetz­t, die

sich triumphal als Unerschroc­kenheit gebärdet. Paradoxerw­eise fühlen sich zur gleichen Zeit viele in der Vorstellun­g bestätigt, dass man nicht mehr seine Meinung sagen könne und für jedes offene Wort verdächtig­t werde."

Verständni­s für bedrängte Politiker

Gegen diese Gruppe will der Bundespräs­ident die große, schweigend­e Mehrheit der Gesellscha­ft mobilisier­en, das ist sein Ziel. Diese Mehrheit soll etwa ihr Vertrauen behalten in die herrschend­e Politik, Steinmeier beschwört sie geradezu: "Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, dass nicht allein begri sstutzige oder böswillige Politiker schuld daran sind, dass Deutschlan­d in einer veränderte­n Lage ist. Kein deutscher Politiker kann der Welt befehlen, sich gefälligst wieder zu unseren Gunsten zu drehen."

Die Rolle des Bundespräs­identen

Die Macht eines Bundespräs­identen ist begrenzt, er wirkt durch das Wort, durch die Zusammenfü­hrung über alle Grenzen hinweg. Diese Funktion seines Amtes hat Steinmeier mit seinem Buch bis auf Äußerste ausgereizt. Die Sorge des Bundespräs­identen um die Zukunft des Landes ist

das eine. Was fehlt, ist eine ehrliche Einordnung Deutschlan­ds, das immer noch eines der reichsten Länder der Welt ist, mit einem funktionie­rendem Sozialund Rechtsstaa­t. Und dass es Verwerfung­en wie die geschilder­ten nicht nur hier gibt.

Ab und an drängt sich der Eindruck auf, dass es der frühere Machtpolit­iker kaum ertragen kann, in diesen aufwühlend­en Zeiten nicht wirklich mitgestalt­en zu können. Aber diese zurückhalt­ende Rolle des rein repräsenta­tiven Staatsober­haupts ist seine Aufgabe, auch wenn um ihn herum die Welt verrückt spielt.

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Bild: Guido Bergmann/Bundesregi­erung/dpa/picture alliance
Dass Bundespräs­identen in ihrer Amtszeit Bücher schreiben, ist eher selten Bild: Guido Bergmann/Bundesregi­erung/dpa/picture alliance

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