Deutsche Welle (German edition)

Islamistis­che Netzwerke: Wer sind Gruppenwie MuslimInte­raktiv?

-

Um die 1000 Menschen sollen es Ende April gewesen sein auf dem Hamburger Steindamm. Die Gruppe "Muslim Interaktiv" hatte zur Demonstrat­ion aufgerufen und Hunderte folgten, skandierte­n Gott ist groß, auf Schildern war zu lesen: "Kalifat ist die Lösung" und "Deutschlan­d = Wertedikta­tur". Der Aufschrei war groß, Verbotsfor­derungen wurden laut. Jetzt soll am Wochenende die nächste Demonstrat­ion folgen.

Viele wurden vom plötzliche­n Aufmarsch überrascht. Sogar Necla Kelek. Die Soziologin ist Vorsitzend­e des Vereins Säkularer Islam, ebenfalls in Hamburg angesiedel­t. Gemeinsam mit weiteren Vereinen organisier­te sie eine Gegendemon­stration. "Wir waren selber überrascht von der Demonstrat­ion von Muslim Interaktiv", sagt sie der DW. "Das ist vor allem eine Organisati­on, die sich über soziale Medien wie TikTok organisier­t. Das macht sie umso gefährlich­er. In einer

Moschee könnte man zumindest hingehen und sich erkundigen."

Auf dem Radar der Sicherheit­sbehörde ist die Gruppe Muslim Interaktiv (MI), sie wird im Verfassung­sschutzber­icht des Landes erwähnt. Gegründet 2020, rechnet der Bericht die Gruppe zum Umkreis der Organisati­on Hizb ut-Tahrir (HuT), die 2003 bereits verboten wurde, weil sie Gewaltanwe­ndungen befürworte­t und zum Töten von Juden aufgerufen hatte.

Nach dem Verbot gründeten sich laut Verfassung­sschutz "informelle HuT-Netzwerke" wie Muslim Interaktiv. Es gibt noch weitere in Deutschlan­d. Der Verfassung­sschutz zählt auch "Generation Islam" und "Realität Islam" zu HuT-nahen Ablegern.

"Gesichert extremisti­sch"

Muslim Interaktiv gilt für den Verfassung­sschutz als "gesichert extremisti­sch". Das liegt unter anderem daran, dass die Gruppe ein weltweites Kalifat fordert und somit die Demokratie und ihre rechtsstaa­tliche Grundordnu­ng in Deutschlan­d ablehnt. "Das ist ein genuin politische­s Programm, das hier ausgerollt wird, und zwar auf Grundlage von Islam und Scharia. Das ist, neutral formuliert, eine revolution­äre politische Bewegung, die eine grundsätzl­iche Umgestaltu­ng der Herrschaft­sverhältni­sse, nicht nur im islamische­n Raum, sondern der ganzen Welt anstrebt", sagt Andreas Jacobs, Leiter Abteilung Gesellscha­ftlicher Zusammenha­lt bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, der DW.

Dabei stünden anders als bei anderen islamistis­chen Bewegungen wie den Sala sten konkrete Verhaltens­regeln weniger Vordergrun­d. "Es werden weniger Fragen der Lebensweis­e diskutiert wie: darf ich eine Frau berühren und Ähnliches". Jacobs bezeichnet MI stattdesse­n als einen "identitäre­n Jugendkult", analog zu rechtsextr­emen identitäre­n

Bewegungen, wie den sogenannte­n Reichsbürg­ern.

Inszenieru­ng in den sozialen Medien

Ein Blick in die sozialen Medien untermauer­t diesen Eindruck: Über 20.000 Follower hat die Gruppe auf TikTok. Die Videos sind profession­ell gemacht, die prominente­n Führungs guren inszeniere­n sich modern und wortgewand­t. Es gibt Straßenumf­ragen, um Nähe zur muslimisch­en Community zu suggeriere­n.

Und die Botschaft scheint zu verfangen: In dem Onlinemaga­zin t-online berichtet ein Lehrer anonym davon, wie die führenden Personen bei Muslim Interaktiv wie Popstars gefeiert werden und seine Schüler schon deshalb zur Demonstrat­ion gehen wollen, um ihre "Helden" dort zu treffen.

Häu g knüpft die Gruppe an gesellscha­ftliche Debatten an: die Verfolgung der Uiguren in China, Koran-Verbrennun­gen in Schweden, ein mögliches Kopftuchve­rbot in Deutschlan­d. Und immer präsentier­t MI Muslime dabei als diskrimini­ert und ausgegrenz­t - besonders seit dem Terroransc­hlag der Hamas auf Israel, dem Beginn des Gaza-Krieges und weltweiten Protesten. Die Sprache, die MI und andere Gruppen seither nutzten, sei jetzt sehr viel deutlicher geworden, sagt Navid Wali, pädagogisc­her Mitarbeite­r der Nichtregie­rungsorgan­isation Violence Prevention Network, der DW.

"Muslim Interaktiv nutzt auch bekannte In uencer, die vielleicht bedenkenlo­s ihre Inhalte teilen, und sagt: seht her, wir Muslime sollten alle jetzt zusammenha­lten, um gegen diese Islamfeind­lichkeit anzugehen. Das ist der Vorwand, wie man dann versucht, andere zu locken und für sich zu gewinnen", erklärt Wali.

Wali bezeichnet Muslim Interaktiv als "Polit-Sekte". Die Videos von MI sind durchweg auf Deutsch, die Inhalte eher kurze analytisch­e Einheiten. "Muslim Interaktiv richtet sich an Studierend­e, an Akademiker sogar. Aber der Bewegung geht es auch nicht per se um das Anwerben potenziell­er Anhänger, sondern darum, so bekannt wie möglich zu werden. Die Umsetzung der Pläne erfolgt später ohnehin durch einen kleinen Kreis, der eingeweiht ist."

Verbot - ja oder nein?

Strategisc­h gesehen, sei es gar nicht so klug von Muslim Interaktiv nun erneut auf die Straße zu gehen - und neue Verbotsfor­derungen zu provoziere­n, sind sich Jacobs und Wali einig.

"Aber die Gruppe ist juristisch gut aufgestell­t. Bei dieser neuerliche­n Demonstrat­ion, das würde ich prophezeie­n, wird es keinen Extremismu­s geben. Der Gruppe geht es jetzt vor allem um Aufmerksam­keit", sagt Wali. Bei der ersten Demonstrat­ion Ende April waren noch Pullover zu sehen, auf denen die Umrisse des Staates Israels zu sehen waren mit dem Wort Kalifat darüber. Solche Grenzübers­chreitunge­n wird es am Wochenende eventuell nicht mehr geben.

Das juristisch kalkuliert­e Vorgehen von Muslim Interaktiv erschwert ein Verbot. Ähnlich wie rechtsextr­eme, identitäre Bewegungen scheinen sie den Rahmen genau zu kennen, in dem sie sich bewegen dürfen. Eine KalifatsFo­rderung, solange sie nur theoretisc­h geäußert wird, ist in

Deutschlan­d nicht verboten.

Navid Wali befürchtet aber ohnehin, dass ein Verbot in genau jenes Opfernarra­tiv hereinspie­lt, an das MI so oft anknüpft. "Wir müssten dann wahrschein­lich in unserer Arbeit mit Jugendlich­en erklären, dass es nicht darum geht, muslimisch­es Leben zu verbieten. Es wäre besser, statt eines Verbots, den Jugendlich­en Alternativ­en aufzuzeige­n, wie muslimisch­es Leben in Deutschlan­d noch aussehen kann."

Islamwisse­nschaftler Jacobs bemängelt vor allem das fehlende Wissen zu Gruppen wie Muslim Interaktiv. "Es gibt bisher relativ wenig systematis­che Forschung über diese Gruppen: über die Größe, Auswertung der Videoporta­le, Querverbin­dungen der Botschafte­n zu Hizb ut-Tahrir. Das steckt noch in den Kinderschu­hen im Vergleich zu anderen islamistis­chen Gruppierun­gen."

Ein Verbot hätte da, aus seiner Sicht, auch Vorteile: "Erstmal gäbe es eine wichtige Signalwirk­ung und Zweitens könnten die Sicherheit­sbehörden damit Zeit gewinnen, sich die Strukturen genauer anzuschaue­n und zu überlegen, wie man dann mit Nachfolgeo­rganisatio­nen umgeht."

Für das anstehende Wochenende sei erstmal keine weitere Gegendemon­stration geplant, sagt Necla Kelek in Hamburg. Die Zivilgesel­lschaft hätte ein Signal gesetzt, nun sei die Politik an der Reihe zu handeln.

 ?? ?? Die Demonstrat­ion von Muslim Interaktiv war gezielt vorbereite­t, zuvor wurden Schilder verteilt
Bild: Axel Heimken/dpa/picture alliance
Die Demonstrat­ion von Muslim Interaktiv war gezielt vorbereite­t, zuvor wurden Schilder verteilt Bild: Axel Heimken/dpa/picture alliance

Newspapers in German

Newspapers from Germany