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Aachener Karlspreis: Wer ist Pinchas Goldschmid­t?

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Der Aachener Karlspreis gilt als eine der ehrenvolls­ten Auszeichnu­ngen Europas und wird Persönlich­keiten oder Institutio­nen zugedacht, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. Seit 1950 bekamen ihn die Gründervät­er des gemeinsame­n Europas, auch Könige und Regierungs­chefs, Staatspräs­identen und Päpste, die Opposition in Belarus und das ukrainisch­e Volk. Am 9. Mai geht der Preis erstmals an einen Rabbiner.

Pinchas Goldschmid­t ist seit bald 13 Jahren Präsident der Konferenz der Europäisch­en Rabbiner (CER), der rund 800 orthodoxe jüdische Gelehrte angehören. Der 60-Jährige ist der wohl prominente­ste Rabbiner Europas. "Das Karlspreis­direktoriu­m will mit dieser Auszeichnu­ng das Signal setzen, dass jüdisches Lebens selbstvers­tändlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemiti­smus sein darf", heißt es in der Begründung.

"Eine Explosion von Antisemiti­smus"

"Die Realität ist leider genau umgekehrt", sagt Goldschmid­t der Deutschen Welle. "Wir haben seit dem 7. Oktober geradezu eine Explosion von Antisemiti­smus." Der Terror der islamistis­chen Hamas gegen Israel brachte den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust. An die 1200 Menschen wurden ermordet, tausende verletzt, rund 240 wurden als Geiseln in den Gazastreif­en verschlepp­t. Israel reagiert seitdem mit einer großangele­gten Militäroff­ensive in Gaza.

Seither nimmt in vielen Teilen der Welt Judenhass zu. Jüdische Eltern, sagt Goldschmid­t, hätten Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Jüdische Männer, Jugendlich­e und Kinder scheuten sich, mit einer Kippa als Kopfbedeck­ung über die Straße zu gehen. Jüdisches Leben ndet oft unter Polizeisch­utz statt.

Antisemiti­smus, so der Rabbiner, "wurde wieder salonfähig und politisch korrekt". Das müsse sich wieder ändern. Die Regierunge­n müssten deutlich machen, dass sie Judenhass nicht akzeptiert­en, "nicht im Schulwesen, nicht auf der Straße, nicht in der

Kultur". Solange offener Judenhass geduldet werde, "haben wir ein schweres Problem". Wenn Goldschmid­t da "wir" sagt, meint er nicht etwa allein oder vorrangig die Jüdinnen und Juden. Für ihn geht es um die Zukunft Europas.

Zur europäisch­en Geschichte der Familie Goldschmid­t gehört das Grauen von Auschwitz. Pinchas Goldschmid­t wurde 1963 in Zürich geboren - weil die Großeltern wegen einer Erkrankung der Großmutter gerade noch rechtzeiti­g 1938 aus Wien in die Schweiz übersiedel­ten. Seine Urgroßelte­rn mütterlich­erseits starben in Auschwitz, auch deren Geschwiste­r, auch die Schwestern und Brüder seines Großvaters, mehr als 40 seiner Verwandten, sagt der Rabbiner.

Flucht vor Putins Angri skrieg

Von 1993 bis 2022 war Goldschmid­t Oberrabbin­er von Moskau. Wenige Tage nach Beginn des russischen Angri skrieges auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 verließ er uchtartig Russland, weil der Kreml die Religionsv­ertreter auf seine Linie verp ichten wollte. Seit seinem Abschied von Moskau hätten mehr als hunderttau­send Juden Russland verlassen, erläutert der Rabbiner. "Die politische Situation in

Russland wird immer schwierige­r. Das Land kehrt zurück in die totale Isolation, in die Sowjetunio­n ohne Kommunismu­s. Und Antisemiti­smus ist wieder ein Teil der Regierungs­politik geworden."

Seitdem leben Goldschmid­t und seine Frau, die sieben Kinder und zahlreiche Enkelkinde­r haben, in Jerusalem. In einem seit dem 7. Oktober 2023 veränderte­n Land. "Ich bin von einem Krieg in den anderen Krieg geraten", meint er. Krieg, sagt er, sei "schrecklic­h, eine der schrecklic­hsten Sachen, die die Menschheit erfunden hat". Aber Israel habe wie jedes Land das Recht auf Selbstvert­eidigung. Und in Gaza kämpfe Israel nicht gegen eine Armee, sondern gegen eine Guerilla-Truppe.

Und er kommt auf die Rolle des Iran, der die Hamas und die Hisbollah-Miliz, beide von der EU als Terrororga­nisationen eingestuft, stütze. "Es ist eine große Stunde für Europa. Europa muss sich wehren gegen diese Angriffe. Diese Angriffe gegen die Demokratie und die Freiheit, die von einer Seite aus Russland kommen und von der anderen Seite aus Iran."

Eigentlich ist der vielsprach­ige Rabbiner ein Meister des Dialogs. Er steht mit vielen führenden Politikern im Austausch, war öfter im Kanzleramt zu Gast, besuchte mehrmals Papst Franziskus. Seitdem er Präsident der Europäisch­en Rabbinerko­nferenz ist, etablierte er einen Dialog führender rabbinisch­er Gelehrter und muslimisch­er Imame aus europäisch­en und nordafrika­nischen Ländern. Diverse Treffen und wachsendes Vertrauen, die es eher selten in die Medien scha ten, aber ungemein wichtig sind. Die Rabbinerko­nferenz hat inzwischen ihren Sitz im süddeutsch­en München.

Der Islam und Europa

"Anstatt den radikalen Islam zu bekämpfen, bekämpft man einfach die islamische Religion. Das ist ein großer, ein sehr großer Fehler", so Goldschmid­t. Man müsse den radikalen Islam bekämpfen, aber es sei zugleich klar: "Der Islam als solcher kann ein wertvoller Bestandtei­l von Europa werden, wenn seine Gläubigen und Vertreter genauso europäisch­e Werte wie Freiheit, Demokratie und Toleranz aktiv leben."

Über den Karlspreis freut er sich. "Für mich persönlich wie für die jüdische Gemeinscha­ft in Europa ist gerade das ein schönes Zeichen. Denn wir wünschen uns mehr Unterstütz­ung der jüdischen Gemeinden aus der Zivilgesel­lschaft. Es wäre so wichtig."

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Bild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance
Viele Synagogen in Deutschlan­d werden rund um die Uhr bewacht Bild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

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