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30 Jahre nach demGenozid: Ruandas Dorf der Versöhnung

- Aus dem Englischen adaptiert von Martina Schwikowsk­i

Als am 7. April 1994 in Ruanda der Völkermord an den Tutsi begann, töteten Kazimungu Frederick und Nkundiye Tharcien - beide Hutu - ihre TutsiNachb­arn. Die Mörder waren zu langen Haftstrafe­n verurteilt worden. Doch nachdem sie um Vergebung gebeten hatten, verbüßten die Männer nur neun Jahre im Gefängnis.

Heute leben sie im Mbyo Reconcilia­tion Village, einem Dorf nahe der Hauptstadt Kigali. Es ist eines von sechs Versöhnung­sdörfern, in denen mehr als 400 Täter und Überlebend­e des Völkermord­es wohnen.

Die damalige Rebellengr­uppe, die von der Ethnie der Tutsi-Minderheit geführte Ruandische Patriotisc­he Front unter Leitung von Paul Kagame, beendete den Völkermord nach 100 Tagen und übernahm die Macht. Kagame wurde 1994 Vizepräsid­ent, am 17. April 2000 wurde er vom Parlament mit großer Mehrheit zum Staatspräs­identen gewählt und regiert seither das Land.

Eine neue ruandische Identität

Der Prozess der Versöhnung zeigt Erfolg: "Ich habe mich schuldig bekannt und die Überlebend­en, deren Familienmi­tglieder ich getötet habe, um Verzeihung gebeten." Im Gefängnis schrieb er seiner Nachbarin Anastasie, deren Ehemann er ermordet hatte, einen Brief. "Jetzt leben wir beide, Überlebend­e und Täter, in Frieden. Wir identi zieren uns nicht mehr entlang ethnischer Grenzen", sagte der 74-jährige Tharcien zur DW.

Auch Fredrick, inzwischen Vater von sieben Kindern, zeigte Reue für seine Tat und kam frei. Der 56-jährige Angehörige der Hutu-Mehrheit beschuldig­t die frühere Regierung, Zivilisten wie ihn dazu gedrängt zu haben, ihre Tutsi-Nachbarn zu töten. "Von Kindheit an wurde uns gesagt, dass die Tutsi unsere Feinde seien und die Hutu seit langem kolonisier­t hätten. Als das Morden begann, mussten wir also die Tutsi töten", sagt er zur DW.

Eine schwierige Versöhnung

Usengimure­myi Silas und Mukamusoni Anastasie - Überlebend­e des Völkermord­s und Nachbarn der beiden Männer - haben sich mit den Tätern versöhnt, sagen sie.

Im Jahr 1994 war Anastasie 20 Jahre alt. Sie erinnert sich an die hilflosen Tutsi, die sie damals an Straßenspe­rren in der Nähe des Dorfes Mbyo sah. Tharcien tötete Anastasies ersten Ehemann, aber jetzt helfen sie sich gegenseiti­g in Zeiten der Not. "Wenn ich Hilfe brauche, ist Tharcien immer zur

Stelle", sagte sie der DW. "Ich habe die Hutu so sehr gehasst, dass ich nicht bereit war, mich mit ihnen zu treffen", fügte sie hinzu.

Zunächst war Anastasie nicht begeistert von der Vorstellun­g, dass die Täter in die Gemeinden zurückkehr­en würden. Doch jetzt gilt Mbyo für zahlreiche Ruander als Beispiel für ein friedliche­s Zusammenle­ben 30 Jahre nach dem Völkermord.

Bedürfnis nach einem Abschluss

Auch Silas el es schwer, den Tätern zu vergeben, die seinen Vater und andere Familienmi­tglieder während des Völkermord­s getötet hatten. "Anfangs waren wir entsetzt, als wir hörten, dass die Täter des Völkermord­es in die

Gemeinden zurückkehr­en würden", sagt Silas zur DW.

"Aber wir hatten keine andere Wahl, denn viele haben nicht die ganze Wahrheit über ihre Beteiligun­g an den Morden gesagt. Wir brauchten jedoch eine Form des Abschlusse­s, um zu heilen."

Die Regierung habe sie davon überzeugt, dass alle Menschen von Geburt an gleich seien. "Der Heilungspr­ozess war schwierig, Sie zeigten uns die Massengräb­er

unserer Angehörige­n, und wir vergaben ihnen schließlic­h", sagt Silas.

Mit der Vergangenh­eit ringen

Trotz des Erfolgs gibt es Kritik, die Versöhnung sei erzwungen. Phil Clark, Professor an der SOAS University of London, betont aber die enormen Fortschrit­te, die Ruanda bei der Versöhnung nach dem Völkermord gemacht habe. Besonders "wenn man bedenkt, dass Hunderttau­sende von verurteilt­en Völkermord-Tätern heute wieder in denselben Gemeinden leben, in denen sie Verbrechen begangen haben, Seite an Seite mit Überlebend­en des Völkermord­s," sagt Clark.

Die meisten dieser Gemeinden seien friedlich, stabil und produktiv. Laut Clark habe man sich aber zu sehr auf diese Modelle der Versöhnung­sdörfer konzentrie­rt: Die Regierung wolle ausländisc­hen Besuchern die Erfolge bei der Versöhnung zeigen. "Diese Modelle sind gar nicht nötig, denn die Fortschrit­te der Versöhnung sind in fast jeder Gemeinde des Landes sichtbar. Sie werden nicht für Außenstehe­nde inszeniert, sondern sind einfach Teil

des täglichen Lebens."

Clark betont, es sei viel wichtiger, dass Hunderttau­sende von verurteilt­en Tätern in ihre Heimatgeme­inden zurückgeke­hrt sind und dort ihr Leben wieder aufbauen und zur Entwicklun­g dieser Gemeinden beitragen konnten.

Einigkeit und Entwicklun­gsprojekte

Mehr als die Hälfte der Bewohner in Mbyo sind Frauen, und ihre Projekte - darunter eine Korb echter-Kooperativ­e und ein informelle­s Geldspar-Programm - haben viele von ihnen vereint.

"Wir haben es geschafft, uns zu versöhnen und gemeinsame Projekte wie Landwirtsc­haft und Korb echterei für die Frauen durchzufüh­ren", sagte Fredrick der DW. Auch Anastasie sagt, dass sie jetzt in Harmonie leben und sich als Freunde und Familie betrachten. "Wann immer ich ein Problem habe, das gelöst werden muss, wende ich mich an Nachbarn wie Tharcien und Fredrick", sagte sie.

Mit der Einrichtun­g eines Ministeriu­ms, dass sichum die Aussöhnung bemüht, haben die ruandische­n Behörden die nationa

le Einheit zwischen der HutuMehrhe­it und der Tutsi- und TwaMinderh­eit gefördert.

Außerdem weisen ruandische Personalau­sweise nicht mehr die ethnische Zugehörigk­eit einer Person aus, und Lektionen über den Völkermord sind Teil des Lehrplans in den Schulen.

Die Regierung hat zudem strenge Gesetze erlassen, um diejenigen strafrecht­lich zu verfolgen, die sie verdächtig­t, den Völkermord zu leugnen oder die "Völkermord­ideologie" zu fördern. Einige Beobachter sind allerdings der Ansicht, dieses Gesetz werde dazu benutzt, Regierungs­kritiker zum Schweigen zu bringen.

 ?? Bild: Isaac Mugabi/DW ?? Versöhnung­sdorf Mbyo: Mukamusoni Anastasie, Usengumure­myi Silas, Nkundiye Tharcien und Kazimungu Frederick (v.l.n.r.) - damals Überlebend­e und Täter, heute wieder Nachbarn
Bild: Isaac Mugabi/DW Versöhnung­sdorf Mbyo: Mukamusoni Anastasie, Usengumure­myi Silas, Nkundiye Tharcien und Kazimungu Frederick (v.l.n.r.) - damals Überlebend­e und Täter, heute wieder Nachbarn

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