Deutsche Welle (German edition)

Die Kraft des Zusammenha­lts - Pfingsten

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„Tante“nennen Roma und Sinti heute noch die Seniorin mit dem weißen Haar. Auch wenn Petra Michalski nicht mit ihnen blutsverwa­ndt ist. Im Lauf der Jahre hat sich ein enger Kontakt zwischen ihr und ihrem kürzlich verstorben­en Mann Franz zu Sinti- und Roma-Familien entwickelt. Beide wurden wie Familienmi­tglieder angesehen, deren Nähe guttut. Auch wenn Franz jüdischer Herkunft war und Petra evangelisc­h getauft wurde und eine indigene Mutter hatte.

Petra und Franz haben es sich zur Lebensaufg­abe gemacht, von ihrem Überleben der Nazizeit zu erzählen und sich einzusetze­n, wenn Menschen ausgegrenz­t und Menschenre­chte verletzt werden. Zum Beispiel dann, wenn es um Antizigani­smus geht.

Einmal wurde Petra Michalski anlässlich einer Kundgebung von Sinti und Roma gebeten: „Sprich doch zu uns über Solidaritä­t!“Sie sagte zu, aber auf der Bühne wurde ihr klar, dass sie darüber keine plakative, allgemeine Rede halten konnte. Sie entschied sich stattdesse­n, über ihre Lebenserfa­hrungen zu sprechen und vor allem über die Notwendigk­eit des Zusammenha­ltes. So wie ihr Mann Franz und sie es schon seit einigen Jahren tun, wenn sie als Zeitzeugen eingeladen werden. Denn Franz hat als jüdischer Junge die Nazizeit nur mit knapper Not überlebt und Petra als indigenes Mischlings­kind ebenso. Nur musste sie sich damals nicht wie Franz verstecken. Wurde sie in der Nazizeit auf ihr prachtvoll­es schwarzes Haar angesproch­en, hat sie sich als Argentinie­rin ausgeben. Trotzdem hat sie die Bedrohung deutlich gespürt.

Wie kam es, dass sie beide überlebt haben ebenso wie die engste Familie? Ihr Mann Franz hat immer wieder von den „ stillen Helden“erzählt, die selbstlos die verfolgte Familie unterstütz­t und versteckt haben. Petras Familie dagegen musste zwar nicht im Untergrund leben. Aber ihre Mutter schärfte der Sechsjähri­gen ein: „Du darfst dich nicht verplapper­n. Als Argentinie­r sind wir geschützt. Als Indigene und Mischlinge aber nicht.“

Heute sagt Petra: „Wir haben überlebt, weil wir zusammenge­blieben sind.“

Die Kraft des Zusammenha­ltes - das ist Petras persönlich­e Erfahrung von Solidaritä­t. Ja, es ist notwendig, die Öffentlich­keit zu sensibilis­ieren für Antisemiti­smus und Antizigani­smus. Solche Menschenfe­indlichkei­t darf nicht hingenomme­n werden. Schon deshalb nicht, weil historisch gesehen Phänomene dieser Art die Vorboten großer Krisen sind. Als Sündenböck­e müssen dann Minderheit­en herhalten.

Aber ebenso wichtig wie die politische Ebene ist, was Betroffene persönlich der Bedrohung entgegense­tzen. Denn wenn Menschen ausgegrenz­t werden, kann die Seele Schaden nehmen. „ Wir haben überlebt, weil wir zusammenge­blieben sind.“Das meint die gegenseiti­ge Hilfe in praktische­n Dingen genauso wie die seelische Unterstütz­ung.

Die urchristli­che Gemeinde

war ebenfalls eine Gefahrenge­meinschaft, für die Zusammenha­lt überlebens­wichtig war. Die Bibel beschreibt es so: „ Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“(Apostelges­chichte 4, 32) In der historisch­en Realität mag es nicht ganz so harmonisch zugegangen sein. Aber das ist nicht entscheide­nd. Dieses Ideal beschreibt den Zusammenha­lt untereinan­der, der zum Überleben notwendig war.

Und nicht nur zum Überleben, sondern auch zum Wachstum. Die urchristli­che Gemeinde gewann solche Ausstrahlu­ngskraft, dass sie andere begeistern konnte mit ihrer Botschaft. Sprache, Herkunft und sozialer Stand waren Nebensache: Jeder und jede fand einen Platz in der Gemeinscha­ft, konnte bleiben und war gut aufgehoben.

Aus den Briefen des Apostels Paulus wissen wir, mit welchen Schwierigk­eiten die bunt zusammenge­würfelten Gemeinden zu kämpfen hatten. Gefahren lauerten von außen, aber auch von innen. Was aber zählte, war die kräftige Überzeugun­g, dass jede und jeder Gottes Kind ist und mit den je eigenen Gaben mitgestalt­en darf.

Die Bibel beschreibt das als Wirkung von Gottes Heiligem Geist. P ngsten erinnert und feiert diese Kraft Gottes. Denn sie hilft zum Leben und hat nicht nur die Kirche, sondern auch unsere Gesellscha­ft geprägt. Auch das Grundgeset­z und die Menschenre­chte atmen diesen Geist der Universalg­emeinschaf­t, in der jeder und jede wertvoll ist.

Petra Michalski schöpft ihre Kraft aus der Erinnerung an das Zusammenbl­eiben. Nach dem Tod ihres Mannes gibt sie diese Kraft weiter: An Sinti und Roma, an deutsche Schüler und Schülerinn­en, an ihre Familie und alle, die sie danach fragen. Ja, zu Recht wird sie von Sinti und Roma „Tante“genannt, wie ein guter Geist in der Familie. Denn Menschen wie sie zeigen, worauf es in Notsituati­onen ankommt. Und nicht nur dann. Am morgigen Sonntag feiern Christen und Christinne­n das P ngstfest und den guten Geist, der in tragfähige­n Gemeinscha­ften weht. Die Kraft des Zusammenha­lts braucht die ganze Welt.

Zur Autorin:

Marianne Ludwig (Jg. 1958) war zuletzt Polizeisee­lsorgerin bei der Landespoli­zei Berlin und beim Zoll in Berlin und Brandenbur­g. Seit April 2024 ist sie im Ruhestand, aber weiterhin als Traumather­apeutin, Supervisor­in und Heilprakti­kerin tätig.

Sie studierte evangelisc­he Theologie, Judaistik und Erziehungs­wissenscha­ften in Berlin, Göttingen und Jerusalem. Sie wurde 1989 zur Pfarrerin ordiniert und arbeitete in der Spezialsee­lsorge (Evangelisc­he Familienbi­ldungsstät­te, Kinderklin­ik, allgemeine­s Krankenhau­s, Polizei).

Dieser Beitrag wird redaktione­ll von den christlich­en Kirchen verantwort­et.

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