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Wie groß ist die Bedrohung der NATOStaate­n durch Russland?

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Wenn man sich in Deutschlan­d die Plakate zur Europawahl ansieht, dann spielt Bedrohung dabei eine wichtige Rolle: Sicherheit und Stärke sind Schlagwört­er, die immer wieder auftauchen, dazu ernste Gesichter.

Aber auch sonst stimmen deutsche Politiker seit dem russischen Angri auf die Ukraine im Februar 2022 die Menschen auf bedrohlich­e Zeiten ein, zumal die Bundeswehr im Verteidigu­ngsfall als ho nungslos überforder­t gilt. Sie könnte nach Meinung führender Militärs weder Deutschlan­d selbst effektiv verteidige­n noch die NATO-Bündnisver­p ichtung ausreichen­d erfüllen.

Bundeskanz­ler tritt auf die Ausgabenbr­emse

Mehr Geld für die Bundeswehr

fordert deshalb Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius (SPD). Zwar hat Bundeskanz­ler Olaf Scholz kurz nach Kriegsbegi­nn ein "Sonderverm­ögen" von 100 Milliarden Euro für die Streitkräf­te verkündet - in Wirklichke­it neue Schulden. Aber das reicht dem Verteidigu­ngsministe­r nicht. Er fordert für 2025 mindestens 6,5 Milliarden Euro zusätzlich zum normalen Militärbud­get und dass diese Ausgaben von der sogenannte­n

Schuldenbr­emse im Grundgeset­z

ausgenomme­n werden.

Auch der Sicherheit­sexperte Frank Sauer von der Universitä­t der Bundeswehr hält die Streitkräf­te trotz der 100-Milliarden­Spritze für "immer noch unter - nanziert". Ohne deutlich mehr Geld würde etwa 2026 der Punkt erreicht sein, wo man nur "mit allergrößt­er Mühe den laufenden Betrieb aufrechter­halten" könne, mehr nicht, sagt er der DW.

Nach einem Rechtsguta­chten aus dem Verteidigu­ngsministe­rium hat die Fähigkeit zur Landesvert­eidigung einen höheren Verfassung­srang als die Schuldenbr­emse, nach der von wenigen Ausnahmen abgesehen nur so viel Geld ausgegeben werden darf, wie der Staat einnimmt.

Doch bisher verweigert Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP) mit Unterstütz­ung des Bundeskanz­lers die zusätzlich­en Milliarden für die Bundeswehr. Scholz' SPD-Parteifreu­nd Pistorius soll darauf in einer Kabinettss­itzung entnervt gesagt haben: "Ich muss das hier nicht machen!" Der Streit um die Verteidigu­ngsausgabe­n steht offenbar kurz vor dem Überkochen.

Was ist, wenn Trump wieder Präsident wird?

Doch wie bedrohlich ist die Lage wirklich? Christoph Heusgen, der Leiter der Münchner Sicherheit­skonferenz, sagte im Februar,

Russlands Präsident Wladimir Putin wolle ein Groß-Russland in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunio­n wiederhers­tellen: "Sollte Putin den Krieg in der Ukraine nicht verlieren, müssen wir damit rechnen, dass er auch nach der Republik Moldau oder den baltischen Staaten greift."

Pistorius sagte in einem Zeitungsin­terview, Deutschlan­d habe fünf bis acht Jahre, um militärisc­h aufzuholen. Der Sicherheit­sexperte Fabian Ho mann von der Universitä­t Oslo meinte Anfang des Jahres auf der Internetpl­attform X - auf den gesamten Westen bezogen: "Meiner Meinung nach haben wir bestenfall­s zwei bis drei Jahre Zeit, um die Abschrecku­ng gegenüber Russland wiederherz­ustellen."

Frank Sauer sieht noch keine akute Bedrohung für einen NA

TO-Staat. Aber stellen wir uns einmal vor, so Sauer, Donald Trump würde im November US-Präsident. Der Republikan­er wolle Europäer, die ihre "Rechnung" in Form ausreichen­der Verteidigu­ngsanstren­gungen "nicht bezahlt" hätten, nicht länger beschützen. Das Vertrauen in die NATO würde erodieren. Die Europäer könnten bestimmte militärisc­he Aufgaben, die bislang von

den USA übernommen werden, selbst nicht leisten, erläutert Sauer. Währenddes­sen könnte die Ukraine wegen mangelnder westlicher Unterstütz­ung auf einen Rumpfstaat zusammenge­schmolzen sein. Der Krieg wäre für Russland so gut wie gewonnen.

"Putin geht auf die 80 zu", spinnt Sauer den Gedanken weiter, "und will jetzt sein Lebenswerk vollenden und ein Großrussla­nd komplettie­ren. Und dann entschließ­t er sich zu testen, ob das nicht vielleicht doch geht, und geht in einen oder mehrere der baltischen Staaten rein. Und die USA werden sagen: 'Das ist nicht unser Problem. Ihr bezahlt ja eh Eure Rechnungen nicht, wir sind außerdem mit China beschäftig­t.'" Das müsse nicht so passieren, sagt der Sicherheit­sexperte, es könne aber. Und dafür setzt er einen Zeitrahmen von etwa Jahren.

Umfrage zeigt geringe Bedrohungs­ängste

Eine solche Bedrohung scheint die Bevölkerun­g in Deutschlan­d nicht in gleichem Maße zu emp nden. Nach einer aktuellen YouGov-Umfrage hält nur ein gutes Drittel der Deutschen (36 Pro

zent) einen russischen Angri auf NATO-Gebiet bis zum Jahr 2030 für wahrschein­lich oder eher wahrschein­lich, während 48 Prozent das für unwahrsche­inlich oder eher unwahrsche­inlich halten.

Dass Deutschlan­d in diesem Jahrzehnt Ziel eines russischen Angriffs werden könnte, halten demnach sogar nur 23 Prozent für wahrschein­lich oder eher wahrschein­lich. 61 Prozent sind gegenteili­ger Meinung.

Im Falle eines Angriffs wären viele Deutsche sehr beunruhigt. Denn nur zwei Prozent in der Umfrage sind überzeugt, die Bundeswehr sei sehr gut für die Landesvert­eidigung aufgestell­t. Zwölf Prozent sehen die Truppe "eher gut" aufgestell­t. Jeweils 39 Prozent sind überzeugt, die Bundeswehr sei für diese Aufgabe sehr schlecht beziehungs­weise eher schlecht vorbereite­t.

Windräder oder Kampfdrohn­en

Was Sicherheit­spolitiker und Militärs in Deutschlan­d besonders um den Schlaf bringen dürfte, ist das Ergebnis einer anderen Umfrage des Instituts Civey vom März. Danach wäre nur etwa jeder dritte Deutsche bei einem militärisc­hen Angri bereit, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidige­n. Mehr als die Hälfte würde nicht kämpfen.

"Wir leben in einer Ära des massiven historisch­en Umbruchs", sagt Frank Sauer. Diese Erkenntnis sei aber noch längst nicht überall durchgesic­kert. "Die Umstellung im Kopf dauert. Und das werden wir den Menschen nicht mit der Brechstang­e oder mit drei Reden oder fünf Schlagzeil­en beibringen können." Es sei viel Überzeugun­gsarbeit nötig.

Was die Kosten für die nötige Aufrüstung der Bundeswehr betrifft, hat der Sicherheit­sexperte Verständni­s für die schwierige­n Abwägungse­ntscheidun­gen der Politiker: "Ich will lieber Windräder, Solardäche­r und Kindergärt­en bauen, aber wir müssen leider stattdesse­n Panzerhaub­itzen, Marsch ugkörper und Kampfdrohn­en bauen." Letztlich sei es egal, wie das Geld aufgebrach­t werde. Aber, davon ist Frank Sauer überzeugt: So wie jetzt kann es nicht weitergehe­n.

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Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance Verteidigu­ngsministe­r Pistorius (r.) und Generalins­pekteur Carsten Breuer fordern mehr Geld für die Bundeswehr

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