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Ukraine: WarumSelen­skyj ohneWahlen imAmt bleiben kann

- Adaption aus dem Ukrainisch­en: Markian Ostaptschu­k

Am 20. Mai endet die formelle Amtszeit des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj. Ende März hätten die nächsten Präsidents­chaftswahl­en statt nden sollen, aber das Parlament hat sie wegen des im Lande herrschend­en Kriegsrech­ts nicht angesetzt.

Das Kriegsrech­t verbietet alle Wahlen. Ende Februar, als Selenskyj eine Bilanz zu zwei Jahren Krieg mit Russland zog, bezeichnet­e er Versuche, seine Legitimitä­t in Frage zu stellen, als "feindliche­s Narrativ".

"Das ist nicht die Meinung westlicher Partner oder von irgendjema­ndem in der Ukraine, das gehört zum Programm der Russischen Föderation", betonte er vor Journalist­en.

Sind Wahlen unter Kriegsrech­t möglich?

Doch damit war die Diskussion nicht beendet. Die meisten ukrainisch­en Juristen erklärten, es sei ganz klar, dass Selenskyj seine Macht so lange behalte, bis ein neuer Präsident gewählt sei.

"Dies steht ganz klar in der Verfassung der Ukraine: Nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren seit dem Tag der Amtseinfüh­rung enden die Befugnisse des Präsidente­n nicht automatisc­h. Sie enden erst mit der Amtseinfüh­rung des neu gewählten Präsidente­n, also erst nach Wahlen", erläutert Andrij Mahera, Experte für Verfassung­srecht vom ukrainisch­en

Centre of Policy and Legal Reform (CPLR), im Gespräch mit der DW.

Doch sowohl Präsidents­chaftsals auch Parlaments­wahlen sind derzeit in der Ukraine verboten - jedoch auf unterschie­dlicher

Grundlage. Die Verfassung verbietet die Parlaments­wahlen, das Kriegsrech­t verbietet jedoch alle Wahlen.

Forderung nach freiwillig­em Rücktritt

Wahlen unter Kriegsrech­t sind

nicht nur verboten, um die Wähler vor Gefahren zu schützen. "Es sind auch bestimmte verfassung­smäßige Rechte und Freiheiten eingeschrä­nkt: zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung, friedliche Versammlun­g und Bewegungsf­reiheit. Deshalb ist es unmöglich, den Grundsatz des allgemeine­n Wahlrechts und der freien Wahlen zu gewährleis­ten", erklärt Andrij Mahera.

Ähnlich äußerten sich im März das "Institut für Rechtsetzu­ng und wissenscha­ftliche und rechtliche Expertise der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften der Ukraine" sowie die Zentrale Wahlkommis­sion des Landes.

An der Debatte beteiligen sich nicht nur aktive Juristen, sondern auch Veteranen der ukrainisch­en Politik. Wie beispielsw­eise Hryhorij Omeltschen­ko, der Mitte der 1990er Jahre als Parlamenta­rier der Kommission zur Ausarbeitu­ng der Verfassung angehörte.

Er betont, es sei kein Versäumnis, dass es keine direkte Regelung zur Verlängeru­ng der Amtszeit des Präsidente­n gebe. Dies sei sogar eine bewusste Absicherun­g.

In einem offenen Brief an Selenskyj, der im März von der Zeitung Ukrajina Moloda veröffentl­icht wurde, fordert er den Präsidente­n dennoch auf, "die Staatsmach­t nicht zu usurpieren", also nicht an sich zu reißen und im Mai 2024 freiwillig zurückzutr­eten.

Selenskyj genießt weiter große Unterstütz­ung

Doch die Legitimitä­t von Wolodymyr Selenskyj beruht nach Ansicht von Beobachter­n nicht nur auf Gesetzen, sondern auch auf der Unterstütz­ung der ukrainisch­en Bürger. Trotz eines gewissen Rückgangs ist sie nach wie vor recht hoch.

Laut einer im Januar durchgefüh­rten Umfrage des ukrainisch­en Rasumkow-Forschungs­zentrums vertrauen 69 Prozent der Ukrainer dem Staatsober­haupt, weniger als ein Viertel vertraut ihm nicht.

Eine weitere Umfrage, die Anfang Februar das Kiewer Internatio­nale Institut für Soziologie (KIIS) vorlegte, zeigt, dass 69 Prozent der Befragten der Meinung ist, dass Selenskyj bis zum Ende des Kriegsrech­ts Präsident bleiben sollte.

Nur 15 Prozent sind für Wahlen unter den jetzigen Bedingunge­n, und weitere zehn Prozent sind dafür, dass der Präsident die Machtbefug­nisse an den Parla

mentsvorsi­tzenden Ruslan Stefantsch­uk übergibt.

Anton Hruschezky­j, Geschäftsf­ührer des KIIS, warnt jedoch vor den letzten beiden Szenarien, da sie eine noch größere Gefahr für die Legitimitä­t der Regierung und eine Destabilis­ierung der Lage in der Ukraine bedeuten würden.

"Millionen Menschen sind im Ausland, Millionen sind unter Besatzung, Hunderttau­sende dienen in der Armee. Wenn sich Bürger nicht als Wähler oder Kandidaten an den Wahlen beteiligen können, dann wird das die Legitimitä­t der Wahlergebn­isse untergrabe­n", stellt er fest.

Wer kann das Verfassung­sgericht anrufen?

Die meisten von der DW befragten Juristen meinen, das Verfassung­sgericht sollte die Debatte über die Befugnisse des Präsidente­n und mögliche Wahlen beenden. "Nur das Verfassung­sgericht darf die Verfassung auslegen und prüfen, ob andere Gesetze mit ihr im Einklang stehen", unterstrei­cht Andrij Mahera.

Aber die Richter des Verfassung­sgerichtsh­ofs können solch wichtige Fragen nicht aus eigener Initiative heraus prüfen. Auch kann nicht jeder eine Prüfung in die Wege leiten.

Das Verfassung­sgericht anrufen können in erster Linie der Präsident sowie die Regierung, der Oberste Gerichtsho­f, eine Gruppe von 45 Parlaments­abgeordnet­en oder der Menschenre­chtsbeauft­ragte des Parlaments. Und das hat keiner von ihnen bisher getan.

Ende Februar berichtete die Zeitung Dserkalo Tyschnja unter Berufung auf eigene Quellen, Selenskyjs Büro arbeite an einem Ersuchen ans Verfassung­sgericht, wage es jedoch nicht, es allein einzureich­en. Dies sollten angeblich 45 Abgeordnet­e der Fraktion der Präsidente­npartei "Diener des Volkes" tun.

Doch seitens der Fraktion heißt es, niemand zweifele an der Legitimitä­t des Präsidente­n. Auch die Opposition zeigt sich überrasche­nd einmütig. Vertreter verschiede­ner politische­r Kräfte erklärten, sie hätten nicht vor, sich an das Verfassung­sgericht zu wenden, und erinnerten an die interfrakt­ionelle Vereinbaru­ng, bis zum Ende des Kriegsrech­ts keine Wahlen abzuhalten.

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Bild: Ukrainian Presidenti­al Press Service/REUTERS Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht während eines Besuchs an der Front mit Soldaten im Donbass

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