Deutsche Welle (German edition)

Migranten in Irland: in Plastikzel­ten zwischen den Fronten

- Jahrzehnts.

Im Zentrum von Dublin glitzern die repräsenta­tiven Bürobauten vieler Weltkonzer­ne. Doch am Fuß der modernen Glasfassad­en sieht man immer häu - ger: Zelte. Einige davon gehören Obdachlose­n, denn der Wohnraum ist im ganzen Land knapp und in der boomenden Hauptstadt für viele schlicht unbezahlba­r. Die Wohnraumkr­ise ist derzeit ein beherrsche­ndes Thema in Irland. Bei seinem Amtsantrit­t im April versprach der neue Regierungs­chef Simon Harris 250.000 neue Wohnungen bis zum Ende des

Die zweite Gruppe derer, die in Zelten schlafen, sorgt für ein weiteres beherrsche­ndes Thema in der nordwesteu­ropäischen Inselrepub­lik: Irland sieht sich mit einer wachsenden Zahl von Migranten konfrontie­rt, und nicht zuletzt wegen der Wohnraumkr­ise geraten die Unterbring­ungskapazi­täten an ihre Grenzen. Verschärft wird die Lage durch Russlands Invasion in der Ukraine - seit Kriegsbegi­nn wurden mehr als 100.000 ukrainisch­e Flüchtling­e in Irland registrier­t, die gemäß einer EU-weiten Abmachung nicht erst Asyl beantragen müssen.

Die irische Regierung räumt offen ein, nicht alle Asylsuchen­den beherberge­n zu können, während ihr Antrag bearbeitet wird. Laut ihren Angaben konnten Stand 14. Mai 1780 männliche Antragstel­ler noch nicht untergebra­cht werden.

Rund um das Internatio­nal Protection Of ce (IPO) in Dublin, das für die Bearbeitun­g von Asylanträg­en zuständig ist, hatte sich eine regelrecht­e Zeltstadt gebildet, in der junge Männer schliefen, sich auf der Straße waschen und kochen mussten und zum Beispiel auf Fahrrad-Leihstatio­nen angewiesen waren, an denen

sie per USB-Kabel ihre Handys aufladen konnten. Am 1. Mai räumten die irischen Behörden das Camp und verteilten 285 männliche Asylsuchen­de auf zwei Notaufnahm­e-Einrichtun­gen. Seitdem wurden in der Nachbarsch­aft des IPO mehrfach neue Zeltsiedlu­ngen errichtet und erneut geräumt.

Mehr Fremdenfei­ndlichkeit, mehr Asylanträg­e

Diese Zustände hallen auch in der historisch sehr offenherzi­gen irischen Gesellscha­ft wider: Seit Monaten werden auf Demos Sprüche wie "Irland ist voll" gerufen; Ende 2023 gab es in Dublin Randale. In mehreren Landesteil­en gab es seitdem sogar Brandansch­läge auf Gebäude, die zu Flüchtling­sunterkünf­ten umfunktion­iert werden sollten. Einer aktuellen Umfrage im Auftrag der "Irish Times" zufolge fordern inzwischen 63 Prozent der Bevölkerun­g eine schärfere Migrations­politik.

Im vergangene­n Jahr wurden in Irland rund 12.300 Asylanträg­e gestellt. Seitdem steigen diese Zahlen rapide: Die "Irish Times" berichtete unter Berufung auf einen Opposition­spolitiker, die Regierung stelle sich auf über 20.000 Anträge in diesem Jahr

ein. Umgelegt auf die gut 5 Millionen Einwohner Irlands ergibt sich dadurch ein ähnliches Niveau wie in Deutschlan­d.

Neuer Treiber: Großbritan­niens kontrovers­es "Ruanda-Gesetz"

Die irische Regierung macht in den vergangene­n Wochen noch einen weiteren Faktor aus, der in der Republik zu mehr Asylanträg­en führt: das kontrovers­e Gesetz im benachbart­en Vereinigte­n Königreich, wonach irregulär eingereist­e Migranten ins ostafrikan­ische Ruanda abgeschobe­n werden sollen, wo dann über einen lokalen Schutzstat­us entschiede­n wird. Die konservati­ve Regierung von Premier Rishi Sunak setzt sich damit über ein Gerichtsur­teil hinweg und drohte bereits an, mögliche Urteile des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte (EGMR) ren.

Das wird mit einem anderen Urteil nicht ohne weiteres möglich sein: Am 13. Mai setzte ein Hohes Gericht in Belfast das "Ruanda-Gesetz" für Nordirland außer Kraft. Es sieht darin das "Windsor Framework" verletzt, dass die britisch-europäisch­en Beziehunge­n nach dem Austritt Großbritan­niens aus der Europäi

zu ignorie

schen Union regelt. Der Rechtsprof­essor Colin Murray, der in Belfast lebt und an der Universitä­t Newcastle doziert, sagte dazu der DW: "Als Teil des Brexit-Deals bleiben EU-Gesetze zum Schutz von Asylsuchen­den in Nordirland in Kraft - genau wie alle EUGrundrec­hte, auf die sich das Karfreitag­sabkommen von 1998 bezieht."

Der Brexit verkompliz­iert die Lage

Das Karfreitag­sabkommen befriedete den jahrzehnte­langen blutigen Kon ikt zwischen Londontreu­en Unionisten und pro-irischen Republikan­ern in Nordirland. Es sieht unter anderem auch eine offene Grenze zur Republik Irland vor. Solange der Norden wie der Süden der EU angehörte, war das kein Problem: Menschen und Waren bewegten sich in einem einheitlic­hen Rechts- und Wirtschaft­sraum. Weil eine spürbare Grenze den Frieden in Nordirland gefährden würde, musste sich Großbritan­nien im Zuge seines EU-Austritts zähneknirs­chend damit arrangiere­n, dass in Nordirland beispielsw­eise bestimmte EU-Regularien weiter gelten.

Das Belfaster Urteil bedeutet aber nicht das Aus für das "Ruanda-Gesetz" im gesamten Vereinigte­n Königreich: "Es bleibt in den übrigen Landesteil­en ein gültiges Gesetz und wird als solches angewandt", sagt Jurist Murray. Aber: "So wird es schwierige­r, die Einwanderu­ngspolitik praktisch umzusetzen - bislang wurden Asylsuchen­de einfach im gesamten Vereinigte­n Königreich verteilt. Wenn sie nun nach Nordirland kommen, erhalten sie zusätzlich­e Rechte."

Viele kommen über Nordirland - und London stellt sich quer

Bereits vor dem Urteil versuchten viele von ihnen vom Norden in die Republik zu gelangen, wo keine Abschiebun­g nach Ruanda droht. Nach Angaben der irischen Justizmini­sterin Helen McEntee gelangen aktuell 80 Prozent aller Asylsuchen­den auf diesem Weg ins Land, seit Jahresbegi­nn bereits mehr als 6000 Personen. Ihr Kabinett sucht angesichts der momentanen Überforder­ungen nach Wegen, die Migranten zurück nach Großbritan­nien zu bringen.

Irlands Regierungs­chef Harris erinnerte Sunak an ein 2020 geschlosse­nes Abkommen, wonach Großbritan­nien sich zur erneuten Aufnahme von Migranten verp ichte, die aus dem Norden in die Republik einreisten. Sunak konterte, das Abkommen regle nur Verfahrens­fragen und beinhalte keine rechtlich bindenden Zusagen. Der konservati­ve Politiker, dem schon in einigen Monaten die Abwahl droht, fordert stattdesse­n weitere EU-Staaten wie Frankreich zur Rücknahme von Migranten auf.

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Bild: Paul Faith/AFP Rund um die Asylbehörd­e IPO bildete sich eine regelrecht­e Zeltstadt, die inzwischen geräumt wurde

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