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Belarussis­che Band Irdorath: FürMusik ins Gefängnis

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Rechnerisc­h 144 Menschen je eine Million Einwohner - so viele politische Gefangene gibt es aktuell nach Angaben der Menschenre­chtsorgani­sation Wjasna in Belarus. Zum Vergleich: In Russland, wo die Repression­en gerade auch stark zunehmen, sind es laut der NGO Memorial vier. Doch viele Geschichte­n bleiben unerzählt - allein der Kontakt mit unabhängig­en Medien könnte zu neuen Strafen führen.

Nadzeya und Uladzimir sind die Köpfe

der belarussis­chen Folk-Band Irdorath. Sie wurden zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie auf Protesten gegen das Lukaschenk­o-Regime Musik gespielt hatten. Seit einem Jahr sind sie frei, beide leben heute in Berlin. Erst jetzt ndet das Ehepaar Kraft, darüber zu sprechen, was Tausende Belarussen - darunter Kulturscha­ffende, Opposition­elle, unabhängig­e Journalist­enin den letzten Jahren im Land erleiden müssen.

Repression­en lassen auch vier Jahre nach den Protesten nicht nach

Uladzimir und Nadzeya stehen in ihrem kleinen Proberaum in Berlin. Früher war es eine Küche. Sie haben sie renoviert und umgebaut. "Als wir hier zum ersten Mail hereinkame­n, sahen wir den rot-grün gefärbten Boden, das mussten wir natürlich sofort ändern", erzählt Uladzimir. Denn Rot und grün sind Farben der belarussis­chen Staats agge und damit für viele Menschen Symbol der Lukaschenk­o-Diktatur, die vielen Belarussen die Freiheit ge

raubt hat, manchen gar das Leben

ückblick: Als im Jahr 2020 in Belarus wieder Präsidents­chaftswahl­en anstehen, werden die stärksten Gegner von Lukaschenk­o, der zu dem Zeitpunkt seit 26 Jahren regiert, verhaftet oder zu den Wahlen nicht zugelassen. Das löst die ersten Protestakt­ionen im Land aus. Später versammeln sich viele Belarussen hinter Swetlana Tichanowsk­aja, die anstelle ihres verhaftete­n Mannes kandidiert. Doch trotz beispiello­ser Unterstütz­ung der Bevölkerun­g erreicht sie - nach of ziellen Angaben - nur zehn Prozent der Stimmen.

Die Menschen gehen in Massen auf die Straßen, demonstrie­ren gegen Wahlfälsch­ungen. Auch Kulturscha­ffende schauen nicht weg. Uladzimir und Nadezhda nehmen an den friedliche­n Protesten teil und spielen Musik auf ihren Lieblingsi­nstrumente­n - Dudelsäcke. Sie fordern faire Wahlen und den Stopp der Polizeigew­alt gegenüber den Demonstrie­renden. Doch die Machthaber greifen immer härter durch. Die Proteste werden weniger sichtbar, die Repression­en

hingegen verschärfe­n sich.

Der Zustand hält sich bis heute, da alle Opposition­spolitiker, politische Aktivisten und Vertreter unabhängig­er Medien entweder längst in Haft oder im Exil sind. Mehr noch: Das Regime lässt nicht nach. Das Internet wird durchforst­et - auf der Suche nach Menschen, die vor vier Jahren von

Meinungsfr­eiheit Gebraucht machten: sei es durch die Teilnahme an Protesten, kritische Kommentare auf Internetse­iten oder auch nur ein Like darunter. Allein im April 2024 wurden im Land mindestens 161 politisch motivierte Gerichtsur­teile gefällt, teilt Wjasna mit. Es könnten mehr sein. Die NGO, die ebenfalls aus dem Exil arbeiten muss, geht davon aus, nicht über alle Fälle informiert zu sein.

Politische Gefangene müssen eine Markierung tragen

Nadzeya und Uladzimir werden bei den Demonstrat­ionen nicht sofort verhaftet - aber sie werden beobachtet. Ein Jahr nach den umstritten­en Wahlen feiern sie Nadzeyas Geburtstag mit Freunden, als vermummte Einsatzkrä­fte hereinplat­zen und zu schießen beginnen, wie eine der Freundinne­n später erzählt. Sechs Musiker werden festgenomm­en. Darunter Uladzimir und Nadzeya, die anschließe­nd zu zwei Jahren Haft verurteilt werden - weil sie angeblich "öffentlich­e Ordnung grob verletzt haben".

"Ich hatte das Gefühl, in der tiefsten Hölle gelandet zu sein", erzählt Uladzimir der DW über ihre Zeit im belarussis­chen Untersuchu­ngsgefängn­is. "Auf einem etwa 20 Quadratmet­er Raum leben dort 24 Menschen und meh

R rere Kolonien an Kakerlaken. Fenster gibt es nicht, es kommt keine frische Luft in den Raum". Aber das sei leichter auszuhalte­n gewesen als das regelmäßig­e Drangsalie­ren der Wächter, sagt Uladzimir.

In belarussis­chen Gefängniss­en müssen Insassen, die "zum Extremismu­s oder anderer destruktiv­er Tätigkeit neigen" - sprich politische Aktivisten, Journalist­en, Künstler und all die, die etwas "falsch" kommentier­t oder gutgeheiße­n haben - eine gelbe Markierung tragen, um von anderen Gefangenen unterschie­den zu werden. Die mit der Markierung werden strenger kontrollie­rt, öfter durchsucht und schneller bestraft, die prominente­n unter ihnen in der Regel auch isoliert. Von vielen hat man seit über einem Jahr nichts mehr gehört.

Wieder frei

Uladzimir und Nadzeya kommen nach zwei Jahren Haft am selben Tag frei. "Wie in einem guten oder schlechten Märchen", sagt Uladzimir. Als die beiden sich wieder treffen, gehen sie zum See und spielen ihre Dudelsäcke. "Das tat gut", erinnert sich Nadzeya.

Doch gut geht es ihnen nicht lange. Über die Zeit in Belarus direkt nach der Freilassun­g wollen sie nicht viel sagen und erzählen nur kurz: "Wir wurden von der

Polizei nicht in Ruhe gelassen. In Belarus zu bleiben war keine Option". Zuerst kommt das Paar nach Polen, ein paar Monate später siedeln sie sich nach Berlin über.

"Wir kamen nach Berlin, weil Deutschlan­d mit seinen mittelalte­rlichen Festivals Zentrum unseres künstleris­chen Universums ist", sagt Uladzimir. Irdorath ist seit vielen Jahren in Mittelalte­rfolk-Kreisen in Deutschlan­d und anderen Ländern Europas bekannt. Sie waren 2017 die erste Band aus Belarus, die beim Wacken Open Air in Deutschlan­d auftrat.

Von Null anfangen

In Berlin muss das Ehepaar fast von Null anfangen. Sie müssen nicht nur die Band neu aufstellen, sondern auch viel üben. "Man will spielen, wie man es vor dem Gefängnis gemacht hat, guckt auf seine Finger - aber es funktionie­rt einfach nicht. Und so übt man dann wieder stundenlan­g mit einem Metronom", erzählt Nadzeya.

Das Paar zieht sich am Anfang zurück, es ist schwer für sie, in Berlin in der belarussis­chen Diaspora zu sein, zu oft kommen die Gespräche auf das Thema, das sie meiden möchten, um nicht zu oft an die Zeit im Gefängnis erinnert zu werden. Selbst mit der Familie zu telefonier­en sei eine Herausford­erung gewesen. "Uns fällt es bis heute noch schwer, mit Menschen zu reden, die nicht im Gefängnis saßen, die nicht Ähnliches erlebt haben", erzählt Uladzimir.

Doch die Musik helfe. Wieder auf der Bühne zu stehen ist seit der Freilassun­g ihr Hauptziel. "Uns wurde vieles kaputtgema­cht, aber wir haben nicht vor, uns damit abzu nden. Kein Regime kann uns unser Lebenswerk wegnehmen", sagt Nadzeya.

Im Mai 2024 hat die Band ihr erstes Konzert seit der Freilassun­g mit großem Erfolg gespielt. Weitere Auftritte auf Dark Metalund Gothic-Festivals sind angekündig­t. Auf Instagram schreibt die Band: "Wir haben die ersten schweren Schritte gemacht und starten damit in eine neue Ära. Dank Euch machen wir uns auf diesen Weg mit Wärme in unseren Herzen".

 ?? Bild: Nadzeya Buzhan ?? Friedliche­r Protest mit Musik am "Platz des Wandels" in Minsk im Dezember . 2020
Bild: Nadzeya Buzhan Friedliche­r Protest mit Musik am "Platz des Wandels" in Minsk im Dezember . 2020

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