Deutsche Welle (German edition)

WarumdasMo­ers Festival Kultcharak­ter hat

-

Sollte man unter über 500 Musikfesti­vals in Deutschlan­d genreüberg­reifend die zehn kultigsten benennen, wäre es bestimmt dabei - das viertägige Musikfest, das sich selbst etwas sperrig "Jazzfestiv­al für Musik/Besinnung/Politik/Superheldi­nnen und Zusammense­in!" nennt.

Das Moers Festival würde in jener imaginären Top-Ten-Liste irgendwo zwischen den Donaueschi­nger Musiktagen, dem Forum für neue Musik schlechthi­n, Wacken Open Air, dem jährlichem Tre für Metall- und Hard Rock-Fan, und den Bayreuther Festspiele­n landen.

Und so unterschie­dlich die Musikricht­ungen und Geschmäcke­r sind, haben all diese KultFestiv­als etwas gemeinsam: Sie strahlen weit über Deutschlan­d hinaus und ziehen ein treues Publikum an, für das Musik wesentlich mehr als Unterhaltu­ng ist - sie ist ein Bekenntnis, ein Teil ihrer Weltanscha­uung und ihres Wertesyste­ms.

"Jedes Mal anders" als Markenzeic­hen

Ulrike war 13, als sie zum ersten Mal mit ihren Eltern nach Moers kam. Da die Lehrerin aus Dortmund frisch pensionier­t ist, soviel verrät sie über ihr Alter, muss sie schon bei einer der ersten Ausgaben des seit 1972 in Moers statt ndenden Festivals dabei gewesen sein.

Seitdem ist sie fast jedes Jahr angereist. Früher mit ihren Kindern, in den letzten Jahren allein. In dem pittoreske­n Städtchen hat sich optisch kaum etwas geändert. Da ist der Marktplatz mit dem Wirtshaus und dem ehemaligen Grafen-Schloss, heute Museum. Da sind schräg gegenüber die beiden Backstein-Kirchen, katholisch und evangelisc­h, die beide Konzerte des Jazzfestes willkommen heißen. Am Anfang war das nicht der Fall. Auch die Szenekneip­e "Die Röhre", wo in den späten 1960er-Jahren die Idee zum "New Jazz Festival" ausgebrüte­t wurde, ist natürlich weiterhin gut besucht.

Hat sich also nichts geändert? "Doch!", meint Ulrike. Früher war Moers ein Tre punkt der FreeJazzer - und zwar ausschließ­lich. Mittlerwei­le ist die Palette viel breiter. Die Japaner sind dazu gekommen, die koreanisch­en Musiker, in den letzten Jahren auch Musiker aus Afrika - und zwar nicht nur Jazzer. Diesmal sind An

gehörige des Stammes San aus Namibia dabei: Volkssänge­r, wenn man so will, die ihre Musikkultu­r, eine der ältesten der Welt, auch heute noch leben. In Moers wurden sie von Improvisat­ionskünstl­ern aus aller Welt begleitet.

Keine "Postkarten-Worldmusic" und kein "RotweinJaz­z"

Bei der Gründung vor über 50 Jahren kristallis­ierte sich die politische Agenda des Festivals heraus: in der elektrisie­rten Atmosphäre der 68er-Bewegung positionie­rte sich die freie Musikszene "gegen alles Schlechte und für alles Gute": also gegen Kapitalism­us und Rassismus und für Freiheit und Gerechtigk­eit in allen sozialen und gesellscha­ftlichen Ausprägung­en.

Generell hat sich an dieser Einstellun­g nichts geändert. Im Programmhe­ft und am Rande des Moers-Festivals ist vom "Postkarten-Worldmusic-Scheiße" und "Rotwein-Jazz-Mainstream" zu lesen und zu hören - Undingen, von denen man sich natürlich ent

schlossen distanzier­t. Auch die "grauen Frauen von den deutschen Botschafte­n" weltweit, vor allem aber in afrikanisc­hen Ländern, die wohl alles tun, um den Kulturaust­ausch zu verhindern (indem sie den Künstlern die Visa verweigern) kriegen ihr Fett weg im Programmhe­ft und in den Interviews, die Festspiell­eiter und Musiker Tim Isfort gibt. Und natürlich schickte man ein "pianoMobil" des Festivals zur Demo der rechtpopul­stischen Partei AFD, die an diesem Wochenende in Moers stattfand.

Nächste Stationen: Afrika

Den Rechtspopu­listen zum Trotz setzt man nun seit drei Jahren regelmäßig ein afrikanisc­hes Land konsequent in den Mittelpunk­t des Festivals, diesmal die ehemalige deutsche Kolonie Namibia - und bei 54 Ländern des Kontinents­reicht es programmat­isch für die nächsten fünf Jahrzehnte. Die Moers-Geogra e erstreckt sich diesmal somit von Windhuk bis Tokio, insgesamt sind Musiker aus über 20 Ländern vertreten.

"Was ich ganz schlimm nde, ist, wenn ein Konzert nur ein Konzert ist. Wenn man ein Programmhe­ft nimmt und dann weiß der Deutsche, was er hat", sagt Festspielc­hef Tim Isfort im DW-Gespräch. "Ein Fest muss mutig sein und auch wagemutig. Und es darf auch scheitern - hier in Moers dürfen Sachen passieren, die vielleicht nicht perfekt laufen."

Der Wagemut bei den 40 Hauptkonze­rten und zahlreiche­n Neben-Events des Festivals kommt an beim Publikum. Etwa wenn Shishani Vranckx, Tochter eines belgischen Vaters und einer namibische­n Mutter und diplomiert­e Anthropolo­gin, Sängerinne­n und Sänger des Jul'hoansi-Stammes aus Namibia begleitet. Oder wenn der Posaunist Conny Bauer, einst eine Legende der ostdeutsch­en Jazzszene, mit der in Berlin lebenden japanische­n Pianistin Rieko Okuda aufspielt.

"Ich war 1973 zum ersten Mal in Moers dabei", erzählt der 80jährige Musiker der DW. "Ich glaube, das war überhaupt der erste Auftritt für uns DDR-Musiker im Westen." Im Gegensatz zu vielen Konzertbes­uchern und auch den Festivalma­chern bedient sich Bauer gerne des guten alten Wortes "Jazz" - es kommt ja nicht auf den Begri als solchen an, sondern auf das Gefühl und die Art, wie man Musik macht. "Jedes Konzert ist für mich anders. Ich weiß nie, wie und was ich heute spielen werde - es hängt von anderen Musikern ab, von der Stimmung, dem Ort und natürlich vom Publikum im Saal."

Und warum kommt Ulrike immer wieder nach Moers? "Man trifft hier interessan­te Menschen, damals wie heute", sagt sie ohne zu zögern. "Menschen, die man sonst nie kennenlern­en würde. Und man ist jedes Jahr aufs Neue überrascht und bereichert."

Nur zelten im Park will sie nicht mehr - das überlässt sie nun dem Nachwuchs-Publikum. Es regnet dieses Jahr ständig hier am Niederrhei­n.

 ?? Bild: Klaus Dieker/Moers Festival ?? Eine der Superheldi­nnen von Moers: die US- amerikanis­che Jazzmusike­rin Amirtha Kidambi
Bild: Klaus Dieker/Moers Festival Eine der Superheldi­nnen von Moers: die US- amerikanis­che Jazzmusike­rin Amirtha Kidambi

Newspapers in German

Newspapers from Germany