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Cannes 2024: Zwischen Polemik und Politik

- Worden

"Dies ist mein 33. Festival in Cannes, und es ist bei weitem das schlechtes­te, das ich je gesehen habe", raunte mir ein müder australisc­her Kritiker bei einem Ka ee ins Ohr, als wir über die Höhen und vor allem die Tiefen des 77. Filmfestiv­als sprechen. Ich bin zwar "erst" zum 23. Mal dabei, aber ich muss zugeben, dass 2024 nicht gerade das glänzendst­e Jahr in der Geschichte des wichtigste­n Filmfestiv­als der Welt war.

Auf dem Papier sah das Programm gut aus. Unter den neuen Filmen von Arthouse-Meistern waren David Cronenberg­s philosophi­sches Horrorwerk "The Shrouds", Paolo Sorrentino­s moderne Fabel "Parthenope", Yorgos Lanthimos' starbesetz­tes Werk "Kinds of Kindness" und Paul Schraders Vietnamkri­egsdrama "Oh, Canada". Dann waren da noch die potenziell­en StudioBloc­kbuster von George Miller ("Furiosa: A Mad Max Story") und Kevin Costner, dessen "Horizons - An American Saga: Chapter 1" der erste Teil eines geplanten vierteilig­en Western-Epos ist. Doch bei

den meisten dieser Filme hatte man den Eindruck, dass die Regisseure einfach nur ihren Job gemacht haben.

Und dann war da noch "Megalopoli­s", Francis Ford Coppolas 120 Millionen Dollar (110 Millionen Euro) teure Science-FictionExt­ravaganz, an der der "Pate"Regisseur seit 40 Jahren arbeitet. Der Film ist eine epische Neuinterpr­etation des römischen Imperiums in einem retrofutur­istischen New York und verspricht sowohl ein Spektakel von Studiogröß­e als auch ein Arthouse-Klassiker zu werden.

Kino muss wieder politisch werden

Für den Cineasten ist "Megalopoli­s" ein herrlich albernes und absurdes Sammelsuri­um von Genres und Themen. Mal erinnert der Film mit seiner epischen Geschichte über amerikanis­chen Ehrgeiz und Hybris an "Citizen Kane". Mal wirkt er wie ein inspiriere­ndes Video des Milliardär­s Elon Musk, dann wieder wie eine HighSchool-Theaterpro­duktion. "Megalopoli­s" hat seine Momente - eine Szene durchbrich­t die vierte

Wand, bringt also Leinwandhe­lden und Publikum zusammen auf eine Art und Weise, die kühn und wirklich revolution­är wirkt, aber am Ende ist es ein überlanges Durcheinan­der.

Neben "Megalopoli­s" war der Film, der in Cannes die meiste Aufmerksam­keit auf sich zog, "The Apprentice": ein Blick auf das Phänomen Donald Trump mit Sebastian Stan als "The Donald" in der Hauptrolle, gedreht vom dänisch-iranischen Regisseurs Ali Abbasi. Er porträtier­t den Aufstieg des ehemaligen US-Präsidente­n im Amerika der 1980erJahr­e unter der Obhut des skrupellos­en Anwalts Roy Cohn, gespielt von Jeremy Strong ("Succession"). Der Film kennt keine Tabus: Abbasi zeigt eine Szene, in der Trump seine erste Frau Ivana vergewalti­gt, und er beschreibt anschaulic­h, wie Trump sich auf den OP-Tisch legt, um sich Fettpölste­rchen absaugen zu lassen, oder seine Glatze verkleiner­n lässt.

Donald Trumps Aufstieg als Satire

Trumps Team, das den Film als "böswillige Verleumdun­g" bezeichnet, hat bereits mit einer Klage gedroht. Abbasi konterte: "Alle reden darüber, dass er viele Leute verklagt hat, aber sie reden nicht über seine Erfolgsquo­te" - und verteidigt­e seine Darstellun­g des ehemaligen und vielleicht zu

künftigen US-Präsidente­n.

"Es gibt keine nette metaphoris­che Art, mit der aufkommend­en Welle des Faschismus umzugehen, es gibt nur die schmutzige Art", sagte der Regisseur nach der Premiere des Films in Cannes. "Ich glaube, das Problem mit der Welt ist, dass die guten Menschen zu lange geschwiege­n haben", so Abbasi. "Deshalb ist es an der Zeit ist, Filme relevant zu machen. Es ist an der Zeit, Filme wieder politisch zu machen."

Körperhorr­or und Geschlecht­sumwandlun­g

Die besten Filme in Cannes waren in diesem Jahr die politische­n und polemische­n. "The Substance" von der französisc­hen Regisseuri­n Coralie Fargeat ist eine Art Kammerspie­l über eine ältere Schauspiel­erin (Demi Moore), die durch einen jüngeren Star (Margaret Qualley) ersetzt wird. Die schaurige Besessenhe­it der Gesellscha­ft von Jugend und Schönheit wird hier mit blutigen Details widergespi­egelt.

Fargeat bemerkte, dass die Gewalt im Film eine Metapher für die emotionale und körperlich­e Gewalt sei, die Männer Frauen antun - und die Frauen sich selbst antun, wenn sie unrealisti­schen Schönheits­idealen nachjagen. "Ich kenne keine Frau, die nicht an einer Essstörung leidet oder ihrem Körper auf andere Weise Gewalt antut", sagte Fargeat und fügte hinzu, sie habe sich entschiede­n, die Gewalt auf der Leinwand "auf extreme Weise zu zeigen, weil ich glaube, dass diese Gewalt sehr extrem ist".

Auch der amerikanis­che Regisseur Sean Baker nimmt in "Anora" das Patriarcha­t und seinen vergiftete­n Umgang mit dem weiblichen Körper aufs Korn. Die Geschichte einer jungen Sexarbeite­rin in Brighton Beach, Brooklyn, die sich in eine Liebesbezi­ehung mit dem Sohn eines russischen Oligarchen verstrickt, spielt sich wie eine Screwball-Komödie ab, doch der Witz tut der Aussage des Films über die Ausbeutung von Frauen keinen Abbruch.

Zum Publikumsl­iebling des Festivals avancierte der französisc­he Filmemache­r Jacques Audiard mit "Emilia Perez". Das KrimiMusic­al spielt in Mexiko und erzählt die Geschichte einer Geschlecht­sumwandlun­g. Zoe Saldana, Selena Gomez und die spanischen Transschau­spielerin Karla So a Gascon brillieren in einer atemberaub­enden Performanc­e.

Flucht aus dem Iran, Premiere in Cannes

Mein Favorit für die Goldene Palme, den Hauptpreis des Festivals, ist "The Seed of the Sacred Fig" (etwa: "Die Saat der heiligen Feige") vom iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof. Vergangene Woche erst oh er zu Fuß über die Berge aus dem Iran, nachdem er wegen seiner politische­n Filme und seines Engagement­s gegen das Regime in Teheran zu acht Jahren Haft verurteilt

war. Er hat in Deutschlan­d Zu ucht gefunden und wird zur Premiere seines Films nach Cannes kommen. Allein das verdient höchste Anerkennun­g.

Aber auch lmisch ist "The Seed of the Sacred Fig" ein Meisterwer­k. Die Geschichte eines Untersuchu­ngsrichter­s am iranischen Revolution­sgericht, der sich gegen seine eigene Familie wendet, während im ganzen Land Unruhen ausbrechen, ist eine zutiefst bewegende Studie darüber, wie autoritäre Politik auf tiefster, persönlich­er Ebene in - ziert und korrumpier­t. Ob er nicht nur mein Favorit ist? Die Jury in Cannes unter dem Vorsitz von Greta Gerwig wird am Samstag (25.05.2024) verkünden, wer der Gewinner der Goldenen Palme 2024 sein wird.

Adaption aus dem Englischen von Sabine Oelze.

wachsene, diese hartnäckig­e Kluft zwischen Ost und West wird in diesen Tagen besonders spürbar, da das deutsche Grundgeset­z 75 Jahre alt wird. Genauer: Die Bundesrepu­blik gab sich mit dem

Grundgeset­z 1949 eine demokratis­che Verfassung. Die untergegan­gene DDR nahm sie 1990 mit der Wiedervere­inigung an. Aus einer Diktatur wurde über Nacht ein Staat, der Demokratie erst "lernen" musste. tualisiert worden.

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Bild: CHRISTOPHE SIMON/AFP Cannes-Jury: Ebru Ceylan, Nadine Labaki, Greta Gerwig, Eva Green und Lily Gladstone

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