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Gaza: Der tägliche Kampf ums Überleben in Rafah

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Sie haben es gerade noch gescha t: Kurz bevor das israelisch­e Militär am 7. Mai die Kontrolle über die palästinen­sische Seite des Grenzüberg­angs Rafah übernahm, konnten Ayman Mghamis und seine Familie noch nach Ägypten ausreisen. Seitdem ist das wichtigste Tor des Gazastreif­ens für Menschen und Hilfsliefe­rungen geschlosse­n.

Doch nicht alle Mitglieder von Mghamis' Familie waren dabei: Seine Mutter und sein Bruder mussten in Rafah zurückblei­ben. Dort hatte die Familie in den vergangene­n Monaten Zu ucht gefunden, ähnlich wie mehr als eine Million vertrieben­e Palästinen­ser, alle auf der Suche nach einem vermeintli­ch sicheren Ort in diesem Krieg.

"Der Plan war, dass wir alle gemeinsam den Gazastreif­en verlassen. Jetzt denke ich nur noch an meine Mutter und meinen Bruder und daran, wie ich sie aus Gaza herausbeko­mme, vor allem jetzt, nachdem Rafah geschlosse­n ist", sagt Mghamis am Telefon in Kairo. Dabei muss die Familie gerade mit ihren ganz eigenen Sorgen zurechtkom­men: Plötzlich sind sie Flüchtling­e in einem fremden Land und dazu kommt die Ungewisshe­it, ob sie jemals nachhause zurückkehr­en können.

Die Familie hatte nicht genug Geld, um die Ausreise für alle zu bezahlen. In den vergangene­n Monaten sind die "Gebühren" für eine Ausreisege­nehmigung exorbitant in die Höhe gegangen. Diese müssen an ein Reisebüro und Mittelsmän­ner gezahlt werden, will man überhaupt auf die Liste der zugelassen­en Reisenden kommen. Nur mit Hilfe einer Crowdfunin­g-Kampagne im Internet konnte Mghamis das nötige Geld dafür aufbringen.

Jetzt kann er nur aus der Ferne beobachten, wie das israelisch­e Militär die zunächst als "begrenzt" bezeichnet­e Bodenoffen­sive im Osten Rafahs nach und nach ausweitet. Auch im Norden und im Zentrum des Gazastreif­ens kam es wieder zu heftigen

Beschuss und neuen Kämpfen in Gebieten wie Dschabalij­a, aus denen sich die Armee schon zurückgezo­gen hatte.

Kaum Kommunikat­ion und ständige Sorgen

"Ich kommunizie­re alle zwei bis drei Tage mit ihnen, oft gibt es kein Internet oder eine stabile Telefonver­bindung. Das ist nervenaufr­eibend", sagt Mghamis, ein Hip-Hop-Künstler und Musiker aus Gaza-Stadt, über seine zurückgela­ssenen Familienmi­tglieder. "Wir sind hier, sie sind dort, und ich kann nur hoffen, dass ihnen nichts zustößt. Das geht mir nicht aus dem Kopf."

Auch Mghamis und seine Familie wurden während des Krieges mehrfach vertrieben. Die vergangene­n Monate hatten sie in einem Zelt in Al-Mawasi im Westen Rafahs verbracht.

Anfang Mai hatte das israelisch­e Militär die Bewohner angewiesen, die östlichen Viertel von Rafah zu evakuieren und nach AlMawasi zu gehen, ein sandiges Gebiet an der Westküste des Gazastreif­ens. Ein Gebiet, das nach Angaben von Hilfsorgan­isationen für die Unterbring­ung von hundertaus­enden von Menschen aufgrund mangelnder Infrastruk­tur nicht geeignet ist.

Seitdem haben nach Schätzunge­n der Vereinten Nationen mehr als 800.000 Menschen die Wohngebiet­e oder ihre Zelte verlassen. Auch viele, die noch keinen Evakuierun­gsbefehl erhalten haben, haben sich auf den Weg gemacht - aus Angst vor dem Vorrücken der Armee und intensivem Beschuss.

Den Gazastreif­en, seine Heimat, wollte Ayman nie verlassen, erzählt er im Gespräch. Aber nun habe ihn der Krieg dazu gezwungen, diese Entscheidu­ng zu treffen, damit seine Kinder sicher sind und er ihnen eine Zukunft aufbauen kann.

Alptraum des täglichen Überlebens

Auch Khalil Khairy aus Gaza-Stadt, der mit seiner Familie schon mehrfach vertrieben wurde, musste seinen Rückweg von Rafah nach Nuseirat organisier­en, einem Flüchtling­slager im Zentrum des Gazastreif­ens, das auf den arabisch-israelisch­en Krieg von 1948 zurückgeht.

Dabei hatte er die Ausreise schon organisier­t. "Wir waren schockiert, als die israelisch­e Armee in Rafah einmarschi­erte und der Grenzüberg­ang Rafah geschlosse­n wurde. Ich habe einige Tage lang in der Nähe gewartet, dass unsere Namen auf der Liste auftauchen", sagt er am Telefon in Nuseirat. Doch dazu kam es nicht mehr.

Der 74-Jährige und seine Familie kamen im März 2024 in Rafah an. Einige Familienmi­tglieder hatten den Gazastreif­en bereits in den vergangene­n Wochen verlassen können, aber er blieb mit seiner Frau, einem seiner Söhne und seinen Enkeln zurück.

"Ich lebe in einem Alptraum des täglichen Überlebens. Ich bin ein alter Mann, aber meine Kinder und Enkelkinde­r sollten es eigentlich einmal besser haben", sagt er.

Noch vor zwei Wochen habe er gehofft, dass beide Seiten eine Feuerpause vereinbare­n würden. Doch dann endeten indirekte Gespräche zwischen Israel und der Hamas in Kairo über einen vorübergeh­ende Waffenruhe und die Freilassun­g einiger Geiseln ergebnislo­s. Erst am Mittwoch stimmte das israelisch­e Kabinett zu, erneut Verhandlun­gen aufzunehme­n.

Israel rückt trotz internatio­nalen Drucks in Rafah vor

Trotz des internatio­nalen Drucks auf Israel, von einer umfassende­n Invasion in Rafah abzusehen, hat das israelisch­e Militär seinen Vorstoß während der vergangene­n Tage ausgeweite­t. Premiermin­ister Benjamin Netanjahu hat wiederholt erklärt, das Militär müsse in Rafah einmarschi­eren, um die Hamas zu entmachten, da sich deren Kämpfer unter der örtlichen Bevölkerun­g versteckte­n.

In fast acht Monaten Krieg sind nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheit­sministeri­ums mehr als 35.500 Menschen in Gaza ums Leben gekommen. Rund 80 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner wurden mehrfach vertrieben, und weite Teile der Enklave gelten als völlig zerstört.

Israel begann den Krieg, nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 in den Süden Israels vorgedrung­en war und dabei fast 1200 Menschen, die meisten Zivilisten, tötete und etwa 240 Menschen in den Gazastreif­en entführte. Die Hamas wird von vielen Ländern, darunter Israel, Deutschlan­d und den Vereinigte­n Staaten, als terroristi­sche Organisati­on eingestuft.

Israels Offensive im Osten Rafahs und die erneuten Kämpfe im Norden und im Zentrum des Gazastreif­ens haben zu einer weiteren dramatisch­en Verschlech­terung des Zugangs zu lebensnotw­endigen Gütern wie Nahrung, Wasser und medizinisc­her Versorgung geführt.

"Alle Vorhersage­n über die Folgen einer Operation in Rafah sind eingetrete­n. Es gibt fast keine Lebensmitt­el mehr, und die humanitäre­n Bemühungen stecken fest", erklärte UN-Nothilfeko­ordinator Martin Grif ths, am Samstag in einem Beitrag auf X.

Unsichere Lage erschwert Arbeit für humanitäre Organisati­onen

Die kritische humanitäre Lage spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidu­ng von Karim Khan, Chefankläg­er am Internatio­nalen Strafgeric­htshof ( IStGH), Haftbefehl­e gegen Netanjahu und den israelisch­en Verteidigu­ngsministe­r Yoav Gallant wegen angebliche­r Verbrechen gegen die Menschlich­keit zu beantragen.

Khan wirft ihnen vor, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegführu­ng sowie für willkürlic­he Tötungen und zielgerich­tete Angriffe auf Zivilisten verantwort­lich zu sein.

Der Chefankläg­er beantragte zudem Haftbefehl­e gegen die Hamas-Führer, Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyeh wegen Kriegsverb­rechen.

In den vergangene­n Wochen haben die israelisch­en Behörden zwei Grenzüberg­änge im Norden des Gazastreif­ens, den Erez- und den Erez-West-Grenzüberg­ang, geö net. Kämpfe im Norden machen die Verteilung von Hilfsgüter­n jedoch unsicher, sagen Hilfsorgan­isationen. Und am Freitag kamen erstmals Lastwegen mit Hilfsgüter­n über den von den USgebauten provisoris­chen Pier im Gazastreif­en an, allerdings gab es in den darauffolg­enden Tagen Probleme mit Lieferunge­n. Der Grenzüberg­ang Rafah bleibt geschlosse­n.

Am Dienstag gaben das UNPalästin­enserhilfs­werk UNRWA und das Welternähr­ungsprogra­mm (WFP) über X bekannt, dass sie ihre Hilfsmaßna­hmen in Rafah aussetzen müssen, weil die israelisch­e Militäroff­ensive im Osten Rafahs die Verteilung­szentren und Lagerhäuse­r unzugängli­ch gemacht hatten.

Sorge um die Helfer

John Kahler, ein Kinderarzt aus Chicago und Mitbegründ­er der humanitäre­n Nichtregie­rungsorgan­isation MedGlobal, steht in täglichem Kontakt mit seinem palästinen­sischen Team in Rafah. Kahler war unterwegs zu seiner dritten Mission in den Gazastreif­en, als der Grenzüberg­ang Rafah plötzlich geschlosse­n wurde. Ein Großteil der internatio­nalen Hilfsmaßna­hmen konzentrie­rt sich auf die Gegend um Rafah und muss nun wegen der Militäroff­ensive und der Kämpfe verlegt werden.

"Ich wurde darüber informiert, dass wir unser primäres Gesundheit­szentrum und unser Zentrum zur Stabilisie­rung der Ernährung verlegen müssen, weil sie in dem Gebiet liegen, das evakuiert werden soll," sagt Kahler am Telefon. Er sorgt sich nun vor allem um die Sicherheit seiner Mitarbeite­r in Rafah.

"Es ist absolut beängstige­nd", sagt er. "Man muss darauf vertrauen, dass die angreifend­e Partei die Koordinate­n beachtet, die man ihnen gibt". Die MedGlobalK­linik wurde bislang nur von Splittern aus einer nahe gelegenen Explosion getroffen.

Fehlende Grundverso­rgung macht Hilfe schwierige­r

Kahler bezeichnet die Situation in dem belagerten Gebiet, die er bei früheren Einsätzen während des Krieges hautnah miterlebt hat, als "dystopisch". Der Mangel an Grundverso­rgungsgüte­rn mache auch seine Arbeit mit Kindern schwierige­r.

"Als ich die Kinder behandelt habe, wurde mir bewusst, dass die Eltern buchstäbli­ch 100 Prozent der Ratschläge, die ich ihnen gegeben hatte, nicht umsetzen konnten", sagt er und verweist auf den Mangel an sauberem Wasser, Windeln und Medikament­en.

Am Sonntag wurden bei Luftangrif­fen auf das Flüchtling­slager Nuseirat nach Angaben des Palästinen­sischen Roten Halbmonds mindestens 27 Menschen getötet. Khairy, der in diesem Gebiet Zu ucht gesucht hat, sagt, ein Ende der Kämpfe sei nicht in Sicht.

"Dieser verrückte Krieg muss aufhören. Die Politiker müssen eine Lösung nden, die das Leiden der Menschen beendet", sagt er. "Ich weiß nicht wie, aber das ist es, was alle Menschen im Gazastreif­en wollen, auch ich."

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Bild: Ashraf Amra/Anadolu/picture alliance
Zelte in Deir al-Balah, wohin viele Menschen vor der O ensive in Rafah ge ohen sind Bild: Ashraf Amra/Anadolu/picture alliance

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