Deutsche Welle (German edition)
Georgiens Kulturszene zwischen Russland und Europa
"Der Fluss der Menschen reißt nicht ab", steht auf ihren blauen Bändern. Autoren, Künstler, Filmleute und Intellektuelle mischen sich unter die - bisher friedlichen - Protestmärsche in den Straßen von Ti is und anderen georgischen Städten. "Der unabhängige Kultursektor, der Georgien viel internationales Ansehen verscha t hat, ist seit Monaten gezwungenermaßen im Dauerprotest", sagt Sonja Katharina Schi ers, Leiterin des Südkaukasus-Büros der deutschen HeinrichBöll-Stiftung in Ti is. Und das hat Gründe. "Der Fluss der Menschen reißt
Vordergründig richten sich die Proteste gegen das sogenannte Agentengesetz. Damit verschärft dieRegierungspartei "Georgischer Traum" die Rechenschaftsp icht von Nichtregierungsorganisationen, die mehr als 20 Prozent Geld aus dem Ausland erhalten. "Damit werden unabhängige Medien wie wir benachteiligt, aber genauso alle nicht-staatlichen, nicht-kommerziellen Organisationen, die in Georgien arbeiten", sagt im DW-Interview Nino Lomadze, Mitgründerin und Redakteurin des regierungskritischen Magazins "INDIGO". Vor allem die Unabhängigkeit der Medien sieht sie in Gefahr: "Es sind sehr problematische Vorschriften, die es der Regierung erlauben, alles zu kontrollieren und zu unterdrücken", so die Journalistin. Die internationale Unterstützung sei unverzichtbar.
Regierung weitet Ein uss auf die Kultur aus
Tatsächlich versucht Georgiens Regierung schon seit längerem, ihren Ein uss auf das Kulturleben massiv auszubauen. Mit dem Schriftstellerhaus in Tiflis und dem Nationalen Filmzentrum wurden in den vergangenen zwei Jahren zwei wichtige Kulturinstitutionen unter Regierungskontrolle gebracht. Filmmanager Gaga Chkheidze, lange Leiter des renommierten "Tblisi International Film Festivals", el bei den Regierenden in Ungnade, weil er nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 öffentlich kritisierte, dass Georgien sich nicht sogleich von Russland distanzierte. Chkheidze verlor seinen Leiterposten beim Nationalen Filmzentrum, Filmförderungen wurden gestrichen, das Budget des Filmfestivals gekürzt. Dessen ungeachtet verlieht ihm Deutschland 2023 die GoetheMedaille, das of zielle Ehrenzeichen des deutschen Staates, ein Signal der Ermutigung.
Vor diesem Hintergrund rücken auch die aktuellen Proteste in ein klareres Licht: "Es geht eindeutig darum", sagt der auch in Deutschland bekannte Schriftsteller Giorgi Maisuradze (" Sonniges
Georgien", 2015), "dass die regierende Partei praktisch ihre Alleinherrschaft etabliert." Der Kulturwissenschaftler spricht deshalb, wie viele andere Kritiker, von einem "russischen Gesetz". Das solle - nach russischem Vorbild - zum einen die Zivilgesellschaft gängeln, sei aber vor allem ein Symbol für die Schicksalsfrage, vor der Georgien heute stehe: Wird Georgien eine Autokratie im Ein ussbereich Russlands? Oder bleibt es auf seinem Weg zu einem staat? demokratischen
Rechts
Gegen einen "Kurswechsel" Georgiens
Georgien - quo vadis? "Wir sind gegen diesen Kurswechsel", sagt Lasha Bakradze, "weg von Europa, hin zu Russland." Der Dokumentar lmer, Historiker und Germanist leitet das Literaturmuseum in Tiflis. "Das Gesetz mauert den Weg nach Europa zu", fürchtet er, "aber keiner hier will in Russland leben, sondern in den demokratischen Strukturen eines Rechtsstaats." In diesem Punkt seien sich nahezu alle Georgier einig: "Wir haben erfahren, was es bedeutet, mehr als zwei Jahrhunderte unter russischem Ein uss zu leben", sagt die INDIGORedakteurin Nino Lomadze. "Wir wissen, was das bedeutet!" Deshalb bekräftigt sie: "Wir haben keine Wahl!"
Es war Salomé Jashi, die das Ringen Georgiens um seine Zukunft bereits 2021 sehr poetisch - und subtil politisch - in Szene setzte. Ihr Dokumentar lm "Taming the Garden" (deutscher Titel: Die Zähmung der Bäume) erzählt die Geschichte von jahrhundertealten Bäumen, die ein ein ussreicher Mann ausgraben lässt: Sie sollen seinen Privatpark schmücken. Der Mann - mutmaßlich Georgiens Ex-Ministerpräsident und Parteiführer des "Georgischen Traums", Bidsina Iwanischwili, der sein Milliardenvermögen im Finanz- und Rohsto - geschäft gemacht hat - bleibt im Film unerwähnt. Doch bis heute darf "Taming the Garden" in Georgien nicht gezeigt werden.
"Für mich war der Baum nicht nur ein Baum", sagt Regisseurin Salomé Jashi im DW-Gespräch, "sondern eine Metapher für Kulturen, für Menschen, für Gesellschaften, für Werte, für Entwurzelung." Für sie sei das eine "metaphorische Reise" gewesen. "Heute, wo wir mit diesem Gesetz, mit russischem Recht konfrontiert sind, wird es plötzlich real: Ich fühle mich, mein ganzes Land und meine Gesellschaft entwurzelt."
Es geht um Georgiens demokratische Zukunft
Nicht nur für sie steht die demokratische Zukunft Georgiens auf dem Spiel. Auch Giorgi Maisuwradze spricht von einem "historischen Moment" für sein Land. Er möchte sich nicht ausmalen, was geschieht, wenn die Proteste erfolglos bleiben. "Wir erwarten, dass der Westen jetzt nicht nur zuschaut, sondern auch handelt." Dazu gehörten vor allem Sanktionen gegen reiche und politisch ein ussreiche Georgier. "Sonst ist Georgien verloren!", so Maisuradze.
Erst einmal liegt das vom Parlament verabschiedete "Transparrenzgesetz" bei der Präsidentin. Bis zu den georgischen Präsidentschaftswahlen im Oktober dürften die Demonstrationen weitergehen. "Der Straßenprotest bleibt wichtig," sagt Sonja Schiffers von der Heinrich-Böll-Stiftung, "weil er auch nach außen zeigt, dass die Gesellschaft weiterhin proeuropäisch orientiert ist." Das sehen auch viele Kulturleute so.