EINE FRAGE DES MEHRWERTS
Die Plattformökonomie ist einer der heißesten Begriffe in der Industrie. An vielen Ecken schließen sich Unternehmen aus Produktfertigung, Zulieferindustrie, dem Servicebereich, Experten für Datenverarbeitung oder -speicherung, reine Hardware- sowie Softwa
Wovon hängt es ab, ob Unternehmen eine Plattform selbst entwickeln sollten oder mit einem Partner zusammen und wenn ja, mit welchen? PLAMEN KIRADJIEV: Diese Fragen werden mir auch oft gestellt. In solchen Momenten frage ich mich selbst: Über was sprechen wir hier eigentlich? Sind das denn überhaupt alles Plattformen im ursprünglichen Sinn? Und können diese auch Teil einer Plattformökonomie sein, deren Ursprung eher im Bereich der großen digitalen Plattformen liegt? All das in einen großen Topf zu werfen und nun auch im industriellen Bereich die große „Plattformökonomie-welle“zu surfen, ist meines Erachtens der falsche Weg. Selbst wenn es aus Marketing-sicht toll ist, braucht es allein bei der Begrifflichkeit etwas mehr Differenzierung.
Wo sehen Sie den Unterschied zwischen digitalen B2c-plattformen und Industrieplattformen im engeren Sinn?
KIRADJIEV: Hierfür macht es Sinn, sich zunächst die traditionellen digitalen B2C-, teils auch B2b-plattformen anzuschauen, die den Begriff „Plattformökonomie“wesentlich geprägt haben. Bei den meisten sprechen wir von internetbasierten Geschäftsmodellen, die Kunden und Anbieter auf einer Art digitalem Marktplatz zusammenbringen. Dabei wirken unter anderem Netzwerkeffekte, d.h. je mehr Anbieter auf einem Marktplatz sind, desto interessanter ist es für die Kunden aufgrund einer höheren Auswahl oder eines höheren Preisdrucks. Auf der anderen Seite zieht eine große Kundenbasis mehr Anbieter an. Meistens muss auch nur eine bestimmte Gruppe für die vom Plattformbetreiber bereitgestellten Dienste bezahlen. Zudem landet oft der Großteil der Wertschöpfung beim Plattformbetreiber, der die Interaktion zwischen Angebot und Nachfrage regelt, und nicht mehr beim Anbieter eines bestimmten Produktes oder einer bestimmten Dienstleistung.
Was genau ist die entscheidende gemeinsame Eigenschaft solcher Plattformen?
KIRADJIEV: Diese Plattformen sind immer der Dominator oder Platzhirsch in ihrer entsprechenden Branche bzw. Region, beispielsweise Amazon und Alibaba im E-commerce-bereich oder Netflix im Streaming-bereich. Sie haben die Machtverhältnisse in ihrem entsprechenden Markt deutlich verschoben – ein weiterer wichtiger Aspekt der Plattformökonomie. Darüber hinaus ist die Vermarktung der Nutzerdaten das zentrale Geschäftsmodell vieler dieser Plattformen wie etwa Amazon, Facebook oder Alphabet, dem Mutterkonzern von Google. Auf Basis dieser Daten wird die Vormachtstellung stetig ausgebaut und eine Etablierung ei
ner möglichen übergreifenden Plattform in einem dieser zahlreichen Bereiche ist kaum in Sicht.
Und was sind dagegen die Merkmale von Industrie-plattformen?
KIRADJIEV: Hier gibt es keinen universellen Ansatz für ein neues Geschäftsmodell, vielmehr bestimmte Use Cases, die diverse Bereiche wie Zustandsüberwachung im Maschinen- und Anlagenbereich oder die Analyse von Produkten und Betriebsprozessen adressieren. Die Rede ist hier eher von einzelnen Daten-drehscheiben, die den Anwendern ein bestimmtes Spektrum an Datenlösungen und Services bieten, nicht mehr. Hier macht es durchaus Sinn zu unterscheiden, ob es eine eigene, intern genutzte Plattform ist, da auch diese unter den Begriff fallen, oder eine externe Partner- bzw. Shared-plattform. Bei Letzterer gibt es oft mehrere Partner, die die B2b-plattform gemeinsam aufbauen und gestalten. Unter ihnen gibt es aber weder einen Dominator, der alle anderen an der Plattform beteiligten Partner überstrahlt, noch wird es in der Industrie 4.0 einen entscheidenden Durchbruch á la Amazon oder Uber geben, da dieser Bereich sehr unkonkret bzw. zu vielschichtig ist.
Welche unternehmerischen Vorteile bringen diese Plattformen und die zugehörigen Geschäftsmodelle in der Industrie-4.0-landschaft überhaupt? KIRADJIEV: Rein interne Lösungen zielen meist darauf ab, bestimmte Bereiche und Prozesse zu optimieren oder Kosten einzusparen und sind aus Sicht der Industrie 4.0 oft vertikaler Natur, d.h. sie schaffen beispielsweise eine Verbindung vom Plant Floor bis hin zur Cloud. Zu Beginn steht hier immer die Frage: Wie kann das jeweilige Unternehmen seine eigene Plattform aufbauen mit eigenen Ressourcen sowie aus Komponenten, die am Markt vorhanden sind und dazu gekauft werden können. Beispielsweise kann IBM wichtige Komponenten für die kundeneigene Plattform beisteuern, indem wir uns mit den bestehenden Komponenten im klassischen „Brownfield“nahtlos integrieren.
Die endgültige Plattform – egal ob groß oder klein – sollte am Ende immer die Ziele des Unternehmens unterstützen. In vielen Fällen ermöglicht eine erhöhte Transparenz der eigenen Daten bzw. die Sammlung neuer Datentypen weitere Geschäftspotentiale, die über die ursprüngliche interne Zielerreichung hinausgehen. So können auch Kunden und Partner davon profitieren, wenn ihnen etwa neue Bezugs- und Preismodelle angeboten werden können. Selbstverständlich ist es auch möglich, diese in Eigenregie entwickelte Plattform selbst anderen Markteilnehmern zugänglich zu machen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, etwa über Lizenzmodelle.
Ist das bei externen Plattformen ähnlich?
KIRADJIEV: Industrie-plattformen, die von mehreren Partnern entwickelt werden, können durchaus ähnliche Ziele verfolgen, sie gehen aber meist noch darüber hinaus. Hier ist die Entwicklungsphase entscheidend, bei der mehrere Kompetenzen genutzt werden und sich neue Horizonte ergeben können, wenn sich jeder über seinen Tellerrand hinausbewegt. Arbeiten beispielsweise im Bereich
Zu Beginn steht immer die Frage: Wie kann das jeweilige Unternehmen seine eigene Plattform aufbauen mit eigenen Ressourcen sowie aus Komponenten, die am Markt vorhanden sind und dazu gekauft werden können?
E-mobilität Autohersteller, Energiekonzerne oder Gemeinden zusammen, kann das zu einer vielschichtigen Lösung bzw. einem Pilotmodell führen, das solch ein Thema von A-Z denkt. Jeder einzelne Beteiligte profitiert von dem Know-how des jeweils anderen und kann selbst die eigene Betrachtungsweise auf bestimmte Sachverhalte ändern, sei es durch technische Machbarkeitserkenntnisse oder rechtliche Situationen, um nur zwei Dimensionen zu nennen. Hier geht es sogar um viel mehr als nur Datendrehscheiben, es geht um die Interaktion mit einem ganzen Ökosystem.
Digital Ledger Technologies (DLT), bei denen die Teilnehmer gleichberechtigt alle Services nutzen, sind für solche Interaktionen besonders geeignet, wie es die wachsende Zahl der Shared-plattformen beweist. Diese Plattformen haben das Potential, ganze Branchen zu vernetzen. Die
Logistik-plattform Tradelens etwa wird bereits von mehr als 100 internationalen Teilnehmern wie Reedereien weltweit genutzt.
Welche Vorteile bieten speziell diese Dlt-technologien für den Aufbau von Geschäftsmodellen?
KIRADJIEV: Vor allem: Mehrwert und kollektives Vertrauen. Daher kommt auch der hohe Zuspruch, etwa bei Tradelens – und das nicht nur durch den Technologiebruch bei der Verarbeitung von Dokumenten: Es gibt keinen Ausdruck mehr, stattdessen Smart Contracts über die Blockchain. So wird etwa das Handling beim Übergang eines Containers von einem Transportmittel in ein anderes einfacher, also weniger Aufwand und Kosten, bei gleichzeitig höherer Sicherheit.
Das zusätzlich Interessante daran ist, dass in der Blockchain auch Messwerte wie die Temperatur, die etwa während des Obsttransports gemessen wurde, unveränderlich gespeichert werden. Bevor das Container-schiff angekommen ist, lassen sich bereits neue Preise verhandeln, falls die stündliche Messung unterwegs einen Temperaturanstieg und damit eine Qualitätsminderung ergeben hat. DLT liefern die Grundlage für eine Plattform aufgrund von Fairness, klaren Regeln und Protokollierung. Man ist eben nicht einem Dominator ausgeliefert: Ich muss nicht einer Firma, Organisation oder Bank vertrauen, sondern die Trusties in der Blockchain-gemeinschaft können wachsen und es ist ausgeschlossen, dass jemand gegen diese Regeln verstößt.
Daher setzen wir bei IBM einerseits auf „Multi-kulti“beim Aufbau der eigenen digitalen Plattformen der einzelnen „Incumbents“zusammen mit Partnern gar im Rahmen von Coopetition und andererseits auf DLT- Technologie beim Aufbau von Plattformen, wie Tradelens, Foodtrust, Responsible Sourcing, Trustyoursupplier, etc. Gerade bei der Letzteren schaffen wir für Unternehmen mit IBM Rapid Supplier Connect eine Hilfe, die aktuelle Corona-krise zu überwinden. Darin sehe ich schließlich nicht nur unser Geschäftsmodell, sondern auch unseren sozialen und gesellschaftlichen Beitrag.