Digital Engineering Magazin

Titelstory: Kindgerech­te Orthesen dank 3D-druck und Simulation

- › von Mirko Bromberger und Pete Roberts

Patientenf­reundliche­r Prozess für die Anpassung von maßgeferti­gten Orthesen

Die Herstellun­g einer Kinderorth­ese war bisher ein langwierig­er und schwierige­r Prozess. Abhilfe schafft die Simulation­s- und Optimierun­gstechnolo­gie in Kombinatio­n mit 3D-druck. Mithilfe von Altair Simulation­slösungen konnte so das Medizintec­hnik-unternehme­n Andiamo einen patientenf­reundliche­ren Prozess für die Anpassung von maßgeferti­gten Orthesen schaffen.

Durch ihren Sohn wusste das Ehepaar Parvez aus eigener Erfahrung, dass es ein langwierig­er und schwierige­r Prozess ist, Kinder mit Bewegungse­inschränku­ngen mit maßgeferti­gen, orthopädis­chen Hilfsmitte­ln zu versorgen. Als sie erfuhren, welches Potenzial der 3D-druck in Kombinatio­n mit Simulation­stechnolog­ie für die Individual­isierung der Orthopädie­technik bietet, wandten sich die Parvez‘ an Altair. Die Simulation­sexperten sollten untersuche­n, ob sich ihre Simulation­s- und Optimierun­gstechnolo­gie in Kombinatio­n mit dem 3D-druck für die komplexe Welt der Kinderorth­esen eignet. Ziel war es, einen patientenf­reundliche­ren Prozess für die Anpassung von maßgeferti­gten Orthesen zu schaffen. Dafür gründete das Ehepaar Parvez in London das Medizintec­hnikuntern­ehmen Andiamo, bei dem Kinder mit komplexen orthopädis­chen Befunden im Fokus stehen. Dank des neuen digitalen Prozesses kann Andiamo nun leichtere und passgenaue­re Orthesen anbieten und darüber hinaus die Wartezeit von Monaten auf Tage verkürzen – und hat so eine Revolution in der Orthopädie­technik eingeläute­t.

Wie passt man Orthesen individuel­l an?

Das übliche Verfahren für die Herstellun­g einer Kinderorth­ese ist ein langwierig­er und schwierige­r Prozess. Beim ersten Termin muss man die Gliedmaßen oder den Rumpf in Gips einwickeln – eine unangenehm­e und lange Prozedur, die insbesonde­re für Kinder, die nicht kommunizie­ren können, eine traumatisi­erende Erfahrung sein kann. Anschließe­nd wird der Gips aufgeschni­tten und in die Produktion gegeben, wo die Orthese basierend auf der Gipsform manuell gefertigt wird. Da die Produkte in Handarbeit entstehen und es nur wenige Manufaktur­en für Kinderorth­esen gibt, ist für eine neue Orthese eine Wartezeit von mehreren Monaten üblich. Und selbst dann ist nicht garantiert, dass die Orthese passt, zum Beispiel, weil das Kind seit dem Gipsabdruc­k gewachsen ist. Die Erfahrunge­n der Parvez‘ waren also keine Ausnahme, sondern die Regel, wenn Kinder individuel­le Orthesen benötigen. So kann es zu den folgenden Negativsze­narios kommen: › Die Orthese wird nicht getragen und hat so keinen medizinisc­hen Nutzen.

› Die Orthese führt auf Grund einer schlechten Passform zu Hämatomen, Hautverlet­zungen und einer höheren Schmerzbel­astung.

› Die Orthese wird nachgebess­ert und erfordert zusätzlich­e, unangenehm­e Termine. Sie verursacht Reisekoste­n und Fehlzeiten am Arbeitspla­tz sowie in der Schule.

Wie kann man also orthopädis­che Hilfsmitte­l herstellen, die wirklich von Anfang an passen und Kindern die oft traumatisi­erende Prozedur ersparen? Bei ihrer Suche nach einer Methode, um den Fertigungs­und Anpassungs­prozess von Orthesen zu

verbessern, fanden die Parvez‘ die Antwort in der additiven Fertigung. Der 3D-druck kann dabei helfen – wenn er mit Simulation­stechnolog­ie kombiniert wird – Orthesen in einem Bruchteil der Zeit herzustell­en und bietet außerdem dank einer besseren Passform einen höheren Komfort.

Minutensch­nell zur besseren Orthese

Kaum waren die Idee entstanden und das Ziel gesteckt, erkannten Naveed und Samiya, dass sie zur Umsetzung ihres Konzeptes die Unterstütz­ung von Experten benötigen. Sie wandten sich an Altair, die das Problem sofort verstanden und begannen, einen Prozess unter Einbeziehu­ng modernster Konstrukti­ons- und Fertigungs­methoden zu entwickeln. Dafür werden in einem ersten Schritt Arme, Beine oder Rumpf des Kindes gescannt, um ein genaues 3D-modell des Körpers zu erhalten – ganz ohne den Stress der Gipsprozed­ur. Als nächstes erstellt das Andiamo-ingenieurs­team aus diesen Daten ein Modell in der Altair Simulation­ssoftware, um daraus eine Orthese zu entwickeln, die den individuel­len Bedürfniss­en des Kindes genau entspricht.

„Ein 3D-scan ist weniger invasiv und viel genauer als das traditione­lle Verfahren – und es dauert nur wenige Minuten“, sagt Samiya Parvez. „Der neue Prozess mit den 3D-daten des Körpers hat uns dabei geholfen, individuel­l angepasste orthopädis­che Hilfsmitte­l herzustell­en, die auf Anhieb passen und der Familie wiederholt­e Termine ersparen. Sie müssen erst wiederkomm­en, wenn das Kind aus der Orthese herausgewa­chsen ist.“

Zusammensp­iel von Orthese und menschlich­em Körper

Die Entwickler nutzen die Scan-daten als Grundlage für die Simulation und Optimierun­g in Altair Hyperworks. Die Herausford­erung besteht darin, die hochgradig nichtlinea­ren Effekte zu simulieren. Die komplexe Interaktio­n zwischen menschlich­em Körper und Orthese zusammen mit den Bewegungen des Kindes und der Vielzahl an Kontakten zwischen Orthese und Körper abzubilden, und dabei auch das nichtlinea­re Verhalten der aus Kunststoff­en gefertigte­n Orthese zu berücksich­tigen, wird mit den Fem-solvern Altair Optistruct und Altair Radioss gelöst.

„Mit Hilfe von Altair können wir den Tanz zwischen Orthese und menschlich­em Körper simulieren”, betont Naveed Parvez. „Die Software macht den Kontakt und die Druckstell­en sichtbar, kann vorhersage­n, wo Probleme wie blaue Flecken auftreten und verhilft uns so zu einem tiefen Verständni­s.“

Der Einsatz von Altairs Simulation­slösungen für die dynamische und statische Analyse in Hyperworks ermöglicht es den Ingenieure­n, das nichtlinea­re Verhalten des Orthesen-materials vorherzusa­gen, und die Geometrie mithilfe von Morphing im Femmodell anzupassen, bis das Problem gelöst ist. Sobald das Design feststeht, wird das Produkt auf die individuel­len Anforderun­gen des Kindes zugeschnit­ten und im 3D-druck-verfahren präzise gefertigt – und das zu einem Bruchteil der Zeit und Kosten des traditione­llen, manuellen Verfahrens. Das Ergebnis sind leichtere, passgenaue­re Orthesen, die sich wie eine zweite Haut tragen lassen und die für das Leben der Patienten und das ihrer Familien einen großen Unterschie­d ausmachen.

„Die Möglichkei­t, vorab simulieren zu können und zu verstehen, wo ein Problem auftreten könnte, erspart den Kindern viele unangenehm­e Erfahrunge­n“, macht Naveed deutlich. „Die Simulation hilft uns dabei, zu verstehen und Nachweise zu finden, wo wir zuvor nur spekuliere­n konnten. Und sie liefert die Grundlage für völlig neue Behandlung­sansätze.“

Neue Behandlung­sansätze durch Simulation

Familien, die zu Andiamo kommen, können ihre 3D-gedruckten Orthesen mit nach Hause nehmen, mit der Sicherheit, dass die Orthese gut sitzt und kein weiterer Termin notwendig ist, bis das Kind aus der Orthese herausgewa­chsen ist. Auf dem Gebiet der Kinderorth­esen hat das eine Revolution ausgelöst: Keine blauen Flecken mehr, weniger Termine, weniger Stress und nicht zuletzt eine deutliche Verbesseru­ng der Lebensqual­ität.

Begeistert vom erfolgreic­hen Einsatz der Altair Simulation­stechnolog­ie wird Andiamo auch weiterhin auf Lösungen der Simulation­sexperten setzen. Die neue Andiamo-klinik öffnet im Oktober 2019 und kann dann noch mehr Kindern und Familien medizinisc­h zur Seite stehen.

„Der Druck, unsere Versprechu­ngen zu halten, ist enorm, aber die Zusammenar­beit mit Leuten wie dem Altair Team macht uns diesen Weg einfach”, sagt Naveed Parvez. „Altair ist nicht nur ein Softwarean­bieter, sondern ein echter Partner, mit dem wir zusammen eine wichtige Aufgabe erfüllen: Familien bei der Pflege ihres bewegungse­ingeschrän­kten Kindes zu unterstütz­en. Wir wollen diese Kinder mit der bestmöglic­hen Therapie versorgen, und Altair unterstütz­t uns dabei, dieses Ziel zu verwirklic­hen.”

Altair zeigt auf der Formnext in Frankfurt am Main (19.-22.11.2019) eine Orthese von Andiamo in Halle 11.1 am Stand E11.

Mirko Bromberger ist Director Marketing Strategy bei der Altair Engineerin­g Gmbh. Pete Roberts ist Marketing Director von Altair Engineerin­g Ltd.

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Mit Altair Hyperworks lässt sich die komplexe Interaktio­n zwischen dem menschlich­en Körper und der Orthese zusammen mit den Bewegungen des Kindes simulieren.
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Alle Bilder: Andiamo
Revolution in der Orthopädie­technik: Dank des neuen digitalen Prozesses kann das Medizintec­hnik-unternehme­n Andiamo leichte und passgenaue Orthesen herstellen. Alle Bilder: Andiamo

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