Titelstory: Kindgerechte Orthesen dank 3D-druck und Simulation
Patientenfreundlicher Prozess für die Anpassung von maßgefertigten Orthesen
Die Herstellung einer Kinderorthese war bisher ein langwieriger und schwieriger Prozess. Abhilfe schafft die Simulations- und Optimierungstechnologie in Kombination mit 3D-druck. Mithilfe von Altair Simulationslösungen konnte so das Medizintechnik-unternehmen Andiamo einen patientenfreundlicheren Prozess für die Anpassung von maßgefertigten Orthesen schaffen.
Durch ihren Sohn wusste das Ehepaar Parvez aus eigener Erfahrung, dass es ein langwieriger und schwieriger Prozess ist, Kinder mit Bewegungseinschränkungen mit maßgefertigen, orthopädischen Hilfsmitteln zu versorgen. Als sie erfuhren, welches Potenzial der 3D-druck in Kombination mit Simulationstechnologie für die Individualisierung der Orthopädietechnik bietet, wandten sich die Parvez‘ an Altair. Die Simulationsexperten sollten untersuchen, ob sich ihre Simulations- und Optimierungstechnologie in Kombination mit dem 3D-druck für die komplexe Welt der Kinderorthesen eignet. Ziel war es, einen patientenfreundlicheren Prozess für die Anpassung von maßgefertigten Orthesen zu schaffen. Dafür gründete das Ehepaar Parvez in London das Medizintechnikunternehmen Andiamo, bei dem Kinder mit komplexen orthopädischen Befunden im Fokus stehen. Dank des neuen digitalen Prozesses kann Andiamo nun leichtere und passgenauere Orthesen anbieten und darüber hinaus die Wartezeit von Monaten auf Tage verkürzen – und hat so eine Revolution in der Orthopädietechnik eingeläutet.
Wie passt man Orthesen individuell an?
Das übliche Verfahren für die Herstellung einer Kinderorthese ist ein langwieriger und schwieriger Prozess. Beim ersten Termin muss man die Gliedmaßen oder den Rumpf in Gips einwickeln – eine unangenehme und lange Prozedur, die insbesondere für Kinder, die nicht kommunizieren können, eine traumatisierende Erfahrung sein kann. Anschließend wird der Gips aufgeschnitten und in die Produktion gegeben, wo die Orthese basierend auf der Gipsform manuell gefertigt wird. Da die Produkte in Handarbeit entstehen und es nur wenige Manufakturen für Kinderorthesen gibt, ist für eine neue Orthese eine Wartezeit von mehreren Monaten üblich. Und selbst dann ist nicht garantiert, dass die Orthese passt, zum Beispiel, weil das Kind seit dem Gipsabdruck gewachsen ist. Die Erfahrungen der Parvez‘ waren also keine Ausnahme, sondern die Regel, wenn Kinder individuelle Orthesen benötigen. So kann es zu den folgenden Negativszenarios kommen: › Die Orthese wird nicht getragen und hat so keinen medizinischen Nutzen.
› Die Orthese führt auf Grund einer schlechten Passform zu Hämatomen, Hautverletzungen und einer höheren Schmerzbelastung.
› Die Orthese wird nachgebessert und erfordert zusätzliche, unangenehme Termine. Sie verursacht Reisekosten und Fehlzeiten am Arbeitsplatz sowie in der Schule.
Wie kann man also orthopädische Hilfsmittel herstellen, die wirklich von Anfang an passen und Kindern die oft traumatisierende Prozedur ersparen? Bei ihrer Suche nach einer Methode, um den Fertigungsund Anpassungsprozess von Orthesen zu
verbessern, fanden die Parvez‘ die Antwort in der additiven Fertigung. Der 3D-druck kann dabei helfen – wenn er mit Simulationstechnologie kombiniert wird – Orthesen in einem Bruchteil der Zeit herzustellen und bietet außerdem dank einer besseren Passform einen höheren Komfort.
Minutenschnell zur besseren Orthese
Kaum waren die Idee entstanden und das Ziel gesteckt, erkannten Naveed und Samiya, dass sie zur Umsetzung ihres Konzeptes die Unterstützung von Experten benötigen. Sie wandten sich an Altair, die das Problem sofort verstanden und begannen, einen Prozess unter Einbeziehung modernster Konstruktions- und Fertigungsmethoden zu entwickeln. Dafür werden in einem ersten Schritt Arme, Beine oder Rumpf des Kindes gescannt, um ein genaues 3D-modell des Körpers zu erhalten – ganz ohne den Stress der Gipsprozedur. Als nächstes erstellt das Andiamo-ingenieursteam aus diesen Daten ein Modell in der Altair Simulationssoftware, um daraus eine Orthese zu entwickeln, die den individuellen Bedürfnissen des Kindes genau entspricht.
„Ein 3D-scan ist weniger invasiv und viel genauer als das traditionelle Verfahren – und es dauert nur wenige Minuten“, sagt Samiya Parvez. „Der neue Prozess mit den 3D-daten des Körpers hat uns dabei geholfen, individuell angepasste orthopädische Hilfsmittel herzustellen, die auf Anhieb passen und der Familie wiederholte Termine ersparen. Sie müssen erst wiederkommen, wenn das Kind aus der Orthese herausgewachsen ist.“
Zusammenspiel von Orthese und menschlichem Körper
Die Entwickler nutzen die Scan-daten als Grundlage für die Simulation und Optimierung in Altair Hyperworks. Die Herausforderung besteht darin, die hochgradig nichtlinearen Effekte zu simulieren. Die komplexe Interaktion zwischen menschlichem Körper und Orthese zusammen mit den Bewegungen des Kindes und der Vielzahl an Kontakten zwischen Orthese und Körper abzubilden, und dabei auch das nichtlineare Verhalten der aus Kunststoffen gefertigten Orthese zu berücksichtigen, wird mit den Fem-solvern Altair Optistruct und Altair Radioss gelöst.
„Mit Hilfe von Altair können wir den Tanz zwischen Orthese und menschlichem Körper simulieren”, betont Naveed Parvez. „Die Software macht den Kontakt und die Druckstellen sichtbar, kann vorhersagen, wo Probleme wie blaue Flecken auftreten und verhilft uns so zu einem tiefen Verständnis.“
Der Einsatz von Altairs Simulationslösungen für die dynamische und statische Analyse in Hyperworks ermöglicht es den Ingenieuren, das nichtlineare Verhalten des Orthesen-materials vorherzusagen, und die Geometrie mithilfe von Morphing im Femmodell anzupassen, bis das Problem gelöst ist. Sobald das Design feststeht, wird das Produkt auf die individuellen Anforderungen des Kindes zugeschnitten und im 3D-druck-verfahren präzise gefertigt – und das zu einem Bruchteil der Zeit und Kosten des traditionellen, manuellen Verfahrens. Das Ergebnis sind leichtere, passgenauere Orthesen, die sich wie eine zweite Haut tragen lassen und die für das Leben der Patienten und das ihrer Familien einen großen Unterschied ausmachen.
„Die Möglichkeit, vorab simulieren zu können und zu verstehen, wo ein Problem auftreten könnte, erspart den Kindern viele unangenehme Erfahrungen“, macht Naveed deutlich. „Die Simulation hilft uns dabei, zu verstehen und Nachweise zu finden, wo wir zuvor nur spekulieren konnten. Und sie liefert die Grundlage für völlig neue Behandlungsansätze.“
Neue Behandlungsansätze durch Simulation
Familien, die zu Andiamo kommen, können ihre 3D-gedruckten Orthesen mit nach Hause nehmen, mit der Sicherheit, dass die Orthese gut sitzt und kein weiterer Termin notwendig ist, bis das Kind aus der Orthese herausgewachsen ist. Auf dem Gebiet der Kinderorthesen hat das eine Revolution ausgelöst: Keine blauen Flecken mehr, weniger Termine, weniger Stress und nicht zuletzt eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität.
Begeistert vom erfolgreichen Einsatz der Altair Simulationstechnologie wird Andiamo auch weiterhin auf Lösungen der Simulationsexperten setzen. Die neue Andiamo-klinik öffnet im Oktober 2019 und kann dann noch mehr Kindern und Familien medizinisch zur Seite stehen.
„Der Druck, unsere Versprechungen zu halten, ist enorm, aber die Zusammenarbeit mit Leuten wie dem Altair Team macht uns diesen Weg einfach”, sagt Naveed Parvez. „Altair ist nicht nur ein Softwareanbieter, sondern ein echter Partner, mit dem wir zusammen eine wichtige Aufgabe erfüllen: Familien bei der Pflege ihres bewegungseingeschränkten Kindes zu unterstützen. Wir wollen diese Kinder mit der bestmöglichen Therapie versorgen, und Altair unterstützt uns dabei, dieses Ziel zu verwirklichen.”
Altair zeigt auf der Formnext in Frankfurt am Main (19.-22.11.2019) eine Orthese von Andiamo in Halle 11.1 am Stand E11.
Mirko Bromberger ist Director Marketing Strategy bei der Altair Engineering Gmbh. Pete Roberts ist Marketing Director von Altair Engineering Ltd.