„VR ist Beiwerk“
Henning Bitter, Chef des Produktkonfigurator-spezialisten Acatec berät seit über 25 Jahren Kunden aus Konzernen und Mittelstand. Im Interview verrät er uns aktuelle Trends der visuellen Konfiguration und wohin die Reise geht.
Acatec-chef Hennig Bitter im Gespräch zu den aktuellen Trends der visuellen Konfiguration
Die Stichworte sind 3D in Echtzeit und Virtual Reality (VR). Das Credo von Henning Bitter dazu: Wenn die dreidimensionale Visualisierung individueller Produkte im Web oder auch offline beim mobilen Einsatz sofort verfügbar ist, ist der Schritt zu VR nur noch eine Sache der Hardwareausstattung. Der Hype ist demnach also nicht VR, sondern die visuelle Konfiguration an sich.
Digital Engineering Magazin (DEM): Herr Bitter, fangen wir doch mal vorne an… mit welchen Anforderungen kommen Unternehmen in Sachen Produktkonfiguration aktuell auf Sie zu?
Henning Bitter: Geschäftsprozesse dauern zu lange, bei komplexen, kundenindividuellen Produkten sind mehr und mehr die Techniker gefragt – der Vertrieb ist ohne sie kaum mehr handlungsfähig. Dies gilt zum einen für die technische Klärung an sich, und zum anderen für die Bereitstellung von aussagefähigen Produktdaten. DEM: Was genau tut den Unternehmen besonders weh?
Bitter: Die Unternehmen wollen vorzugsweise ihren vermeintlichen Standard abverkaufen, das, wofür sie stabile Geschäftsprozesse haben. Die Kunden verlangen aber nach immer mehr Varianzen. Diese sind grundsätzlich auch nicht schlecht. Denn sie bieten Unternehmen die Chance, sich damit vom Wettbewerb zu unterscheiden. Im Prinzip müssten die Unternehmen mit diesen „Sonderprodukten“viel Geld verdienen – aber das tun lange nicht alle. Der Standard subventioniert quasi die Sonderanfertigungen. Es gibt immer mehr Produktmerkmale und auch immer mehr Merkmalswerte. Und wenn man erstmal genötigt ist, kundenindividuell zu konstruieren, kann einem ein Konfigurator auch nur noch eingeschränkt helfen. Wichtig ist dann, dass man in der Lage ist, 80 oder 90 Prozent vom Konfigurator automatisch erledigen zu lassen. Dann kann man sich erlauben, den Sonderanteil manuell zu machen. Zudem hadern die Unternehmen auch mit der Geschwindigkeit und der Ergebnisqualität der Konstruktionen. Das hängt ja insbesondere damit zusammen, dass im Engineering die Datenqualität noch immer ein Thema ist. Und: Es dauert halt insgesamt alles noch zu lange.
DEM: Das hört sich komplex an. Was genau fordert jetzt wer im Unternehmen? Bitter: Der Vertrieb will seinen Kunden sehr schnell aussagefähige Angebote und Produktdaten bereitstellen. Konstrukteure wollen kreativ sein und nicht ständig vom Vertrieb genervt werden und schon gar nicht monotone Routinen erledigen. Der Unternehmensentscheider will Freiraum schaffen, um Innovation zu betreiben. Das Tagesgeschäft steht dem leider oft entgegen.
DEM: Und jetzt? Wollen Sie die Geschäftsprozesse mit einem Konfigurator orchestrieren? Ist das nicht ein sehr strategisches Thema?
Bitter: Natürlich, die Unterstützung durch die Unternehmensführung ist essentiell. Ideal ist, wenn diese bestrebt ist, die Geschäftsprozesse vom Point of Sale bis zur Auftragsabwicklung zu digitalisieren und zu beschleunigen. Die Erkenntnis, dass ein Produktkonfigurator dafür eine werthaltige Komponente ist, setzt sich mehr und mehr durch. Letztendlich geht es tatsächlich um die nahtlose Orchestrierung der Geschäftsprozesse. Das ist sehr interdisziplinär und Silodenken führt da nicht weiter. Ohne Geschäftsleitung geht daher kaum etwas.
DEM: Und wie meinen sie das mit VR, ist sie unwichtig?
Bitter: Ganz und gar nicht: VR ist technisch eigentlich ausgereift – braucht aber in der Praxis meist noch Zeit. Bevor ein produzierendes Unternehmen an VR im Vertriebsprozess denken kann, muss es seine Hausaufgaben machen. Das Stufenkonzept dafür ist: Erstens, einen Cpq-konfigurator
Das Big Picture ist in kleine Happen zu zerlegen. 3 bis 6 Monate für einen ersten Aufschlag beim Vertriebskonfigurator, der schon richtig was kann, das ist sinnvoll“
DIPL.-ING. HENNING BITTER, ACATEC
für den Vertrieb aufbauen, also die Automation von Configure, Pricing und Quote – also die Preiskalkulation und Angebotserstellung. Dann, zweitens, 3D in Echtzeit schaffen, um Kunden sofort ihre individuellen Produkte präsentieren zu können. Und erst als drittes ist dann VR an der Reihe – und da geht es im Wesentlichen um Hardwareausstattung. Denn VR basiert auf 3D in Stufe 2. Denkbar ist letztlich, dass ein Vertriebler eine Vr-brille in sein Kundengespräch mitnimmt. So kann sich der Endkunde, etwa ein Handwerker, anschauen, wie die gewünschte Fahrzeuginneneinrichtung in seinen neuen Transporter passt. Oder, zweite Anwendung, unabhängig vom Vertriebsprozess – der Kunde nutzt allein seine Vr-brille. Dazu aktiviert er an seinem Rechner den Vr-modus und arbeitet mit den Aktuatoren in seinen Händen. Er ändert etwas am Modell, indem er auf das Objekt klickt. Im angezeigten Menü verändert er, was er modifiziert haben möchte – größer, kleiner – und sieht, wie sich das auf das Produkt und seine Umgebung, Halle oder den Maschinenraum, auswirkt. Aus Sicht von Acatec ist VR quasi „Beiwerk“. Ist die visuelle 3D-konfiguration eines Produktes verfügbar, ist VR im Grunde schon fertig. Die Voraussetzungen dafür sind nur ein Vr-headset und eine leistungsfähige Grafikkarte.
DEM: Für welche Anwendungen eignet sich VR denn besonders?
Bitter: Bei komplexen Produkt-komponenten, die in Abhängigkeit untereinander und zu ihrer Umgebung stehen! Zum Beispiel bei Anlagen oder Systemen, die in einer Halle oder einem Maschinenraum stehen. Hier sieht man sofort, ob alles reinpasst oder Verfahrwege von Komponenten freigängig sind.
DEM: Wo klemmt es dann heute noch, wenn es um die Einführung eines Produktkonfigurators geht?
Bitter: Wir machen oft die Erfahrung, dass produzierende Unternehmen einfach nur schneller werden wollen. Und sie wollen die Qualität steigern. Aber die tayloristische Arbeitsweise steht dem entgegen. Das Wissen, um einen Konfigurator aufzubauen, ist überall verteilt. Es geht hier um Silodenken und Kopfmonopole. Wenn die Chefs das selbst nicht sehen, ist es für die Kolleginnen und Kollegen aus Vertrieb, Produktmanagement und Konstruktion oft schwierig, die Entscheider von der Werthaltigkeit einer Investition in einen Produktkonfigurator zu überzeugen. Wir haben aber Zahlen, die wissenschaftlich beweisen, dass sich die Investition lohnt – die Ergebnisse werden besser, die Geschäftsprozesskosten geringer. Ein weiteres Argument sind die verbesserten Daten – die Währung der Gegenwart und Zukunft! Mit einem Konfigurator gibt es keine Medienbrüche mehr. Man vermeidet Fehlerquellen und reduziert Falscheingaben, weil ja die Regeln einmal im Regelwerk definiert sind. Das schafft Transparenz und Effizienz. Manchmal sperren sich auch die Vertriebler, weil sie lieber auf das persönliche Gespräch mit ihren Kunden setzen. Obwohl ihnen ein Konfigurator ja gerade dafür den Rücken freihält. Die IT fürchtet manchmal ein weiteres System, das betrieben werden muss. Hier ist das Argument, dass es relativ einfach ist, eine Konfigurator-infrastruktur mit allen Schnittstellen zu den It-systemen aufzubauen. Zumal wir das seit Jahren überall tun.
DEM: Wie lange dauert die Implementierungszeit für einen Produktkonfigurator? Bitter: Das ist schwer pauschal zu sagen. Es kommt beispielsweise auf die Komplexität der Produkte an, auf die Abhängigkeiten der Merkmale untereinander. Und welche It-systeme in den Konfigurationsprozess integriert werden sollen, und, und, und.
DEM: Welche Tipps können Sie unseren Lesern geben, die eine Konfigurationssoftware anschaffen wollen?
Bitter: Erstens ist die Ressourcenplanung wichtig – egal, ob sie nun 3D in Echtzeit oder auch noch VR nutzen wollen. Sie müssen erfahrene Mitarbeiter dafür freistellen, und zwar die, die gut vernetzt und dauerhaft im Haus sind. Das sind leider meist Engpass-kapazitäten, die die Produkte, die Geschäftsprozesse und die It-systeme genau kennen. Man braucht dafür Mitarbeiter, die auch einen guten Zugang zum Management haben. Praktikanten und Studenten können maximal zuarbeiten. Zweitens – von außen nach innen beginnen, mit Cpq-software, um die Vertriebler schnell ins Boot zu holen und den Entscheidern zügig Ergebnisse liefern zu können. Gut an kommt auch eine automatisierte Erstellung von Kundenmodellen, beispielsweise im Stepformat, während dem Vertriebsprozess. Wir nennen das die „kleine“Cad-automation. Die „große“Cad-automation mit den Daten für die Auftragsabwicklung ist dann ein weiterer Schritt.
DEM: Was sollte man vermeiden?
Bitter: Zu viel auf einmal zu wollen! Das Big Picture ist in kleine Happen und Meilensteine zu zerlegen. Durchgängige Prozesse sind ein schönes Ziel, aber bei einer zu langen Implementierungsdauer verlieren die Akteure womöglich die Unterstützung. 3 bis 6 Monate für einen ersten Aufschlag beim Vertriebskonfigurator, der schon richtig was kann, das ist sinnvoller.
DEM: Welches Mindset sollten die Unternehmen aufbauen?
Bitter: Die Unternehmen sollten agile Arbeitsweisen einsetzen – nicht alles im Detail durchspezifizieren, sondern überlegen, was der Anwender mit dem Konfigurator tun und erreichen möchte und sich darauf konzentrieren. Häufige Änderungen sind dabei übrigens in jedem Projekt an der Tagesordnung. Gut ist es, wenn man in der Implementierungsphase sehr eng mit den späteren Anwendern zusammenarbeitet. Das Autorensystem unserer Software hilft hier, Unternehmen zu befähigen, sich in Zukunft Konfiguratoren selbst zu bauen beziehungsweise sie zu pflegen.
DEM: Was kommt bei der visuellen Konfiguration als nächstes?
Bitter: Augmented Reality und dann Mixed Reality, das sind die nächsten Szenarien.
DEM: Danke Ihnen für das Gespräch!