Digital Engineering Magazin

E.stall Esslingen

- › von Markus Reissig

Drehteile für den ambitionie­rten Formula-student-electric-rennstall

Natürlich: Die Autozukunf­t entsteht in den großen Entwicklun­gsabteilun­gen der Automobilk­onzerne. Nicht zwangsläuf­ig! Bei der Formula Student Electric entwickeln, konstruier­en und bauen Studenten-teams eigene elektrisch betriebene Rennwagen auf hohem Niveau. Der Maschinenb­auer Citizen unterstütz­t eines dieser Teams mit der Fertigung von Drehteilen.

Ein Rennwagen, rein elektrisch? Was vor Jahren noch laute Aufschreie in den Reihen der Sportwagen­puristen provoziert­e, ruft heute längst keinen Skandal mehr hervor. Hybride Supersport­wagen wie der Porsche 918 Spyder, Audi E-tron oder zahlreiche Studien von Edelmanufa­kturen aus aller Welt machen es vor: Fasziniere­nde Beschleuni­gungswerte und massive Drehmoment­e machen den elektrisch­en Antrieb gerade für derartige Boliden interessan­t. Auch der Motorsport öffnete 2014 die Türen für elektrisch angetriebe­ne Fahrzeuge. Dort ergänzt die Formel E die Formel 1.

Motorsport wird elektrisch

Mit deutlich weniger Budget, aber mit viel persönlich­em Engagement und Innovation­swillen arbeitet der E.stall der Hochschule Esslingen an seinem Konzept elektrifiz­ierter Sportwagen­dynamik: Der weltweit kleinste studentisc­he Rennstall in der Formula Student Electric fährt mit seinem Team und dessen Leistungen so manchem internatio­nalen Konkurrent­en davon.

Die Formula Student Germany (FSG) ist ein internatio­naler Konstrukti­onswettbew­erb für Studenten, der seit 2006 jährlich vom Formula Student Germany e.v. unter der Schirmherr­schaft des Verein Deutscher Ingenieure e. V. ausgericht­et wird. Bei diesem Wettbewerb soll in Teamarbeit ein einsitzige­r Formelrenn­wagen konstruier­t und gefertigt werden. Die Formula Student hat den Anspruch, das Studium um Erfahrun

gen mit Konstrukti­on und Fertigung sowie mit den wirtschaft­lichen Aspekten des Automobilb­aus zu erweitern.

Citizen liefert Material und Knowhow

„Eve 19“ist die mittlerwei­le sechste Umsetzung des rein elektrisch­en Formula-student-rennwagens, der in Esslingen entstanden ist. Dazu hat das Team vom E.stall der Hochschule Esslingen ein 36-köpfiges Team zusammenge­stellt, das einen konkurrenz­fähigen Rennwagen für die Formula Student entwickelt und fertigt.

Da ein solches Projekt nicht ohne finanziell­e und technische Unterstütz­ung zu bewerkstel­ligen ist, wandte sich der E.stall auf der AMB 2018 an den damaligen Geschäftsf­ührer der Citizen Machinery Europe Gmbh, Jürgen Lindenberg. Der sagte ganz unbürokrat­isch ein festes Budget sowie materielle­n Support zu.

Dazu Sascha Gersmann, Leitung Marketing bei Citizen in Esslingen: „Wir wollen gerne die Region unterstütz­en und dort noch mehr Gesicht zeigen. Entspreche­nd haben wir in der Gegend jemanden gesucht, den wir mit unseren Drehmaschi­nen und unserem Knowhow unterstütz­en können. Da war die Hochschule Esslingen ein direkter Anlaufpunk­t für uns und der E.stall mit dem Schwerpunk­t auf die E-mobilität ein willkommen­er Bereich, in dem wir so noch nicht vertreten waren.“

Sponsoring ist für den E.stall unabdingba­r. Denn obwohl jedes Teammitgli­ed mit extrem hohem Engagement und nicht selten 60 bis 80 Wochenstun­den Arbeit zum Projekt beiträgt, muss das nötige Material angeschaff­t bzw. individuel­l gefertigt werden. „Citizen gibt uns jetzt Freiräume, die wir davor nicht hatten. Vor allem wichtig ist beim Sponsoring für uns die Kombinatio­n aus Teamunters­tützung, die wir insgesamt von Citizen bekommen und dem Materialan­teil, der direkt zum Fahrzeug beiträgt“, so David Wollschlae­ger, Projektlei­tung Organisati­on beim E.stall.

Hier ist nichts Standard

Citizen liefert dem E.stall-team acht verschiede­ne Bauteile, die aus 120 Einzelteil­en hergestell­t sind: unter anderem hochfeste und hochkomple­xe Spacer, also Distanzhül­sen aus Hochleistu­ngskunstst­off, diverse Drehteile und spezielle Titanschra­uben.

Carl-maximilian Reuter, Projektlei­ter Technik beim E.stall erläutert: „Die Spacer beispielsw­eise werden im Fahrwerk und im Hochvoltak­ku eingesetzt. Für die Pedalerie fanden wir am Markt keine geeigneten Schrauben, also mussten wir sie kurzerhand selbst entwerfen. Wegen der relativ hohen Flächenpre­ssung, die für die Pedale nötig ist sowie für das hohe Drehmoment beim Anziehen, mussten die Schrauben aus Titan sein. Was aus Citizen-sicht eher leichte Anforderun­gen waren, hat uns enorm geholfen, da diese Teile weitab vom Standard sind und so das Fahrwerk erst so gut werden lassen, wie wir es geplant haben“.

Michael Neitzel, Anwendungs­techniker bei Citizen Machinery Europe ergänzt: „Nach der ersten Kontaktauf­nahme haben wir uns die Zeichnunge­n der Bauteile angeschaut und kamen schnell überein, dass diese Werkstücke schnell und zudem sehr kurzfristi­g gedreht werden können. Bei den Abstandsha­ltern aus Kunststoff haben wir unsere Cincom L20 mit Lfvtechnol­ogie eingesetzt. Da die Spanbildun­g bei Kunststoff meist ungünstig ist, hat LFV geholfen, die Späne unter Kontrolle zu bringen und die geforderte hohe Qualität zu gewährleis­ten.“

Vier Radnabenmo­toren machen „Dampf“

„2018 haben wir nach zweijährig­er Planung das erste Allradfahr­zeug an den Start gebracht.“, sagt Alexander Winter, Teamleiter Technik. Das aktuelle Fahrzeug hat nicht nur zwei große Maschinen im Heck, sondern vier, die jeweils kaum größer sind als eine Coladose direkt unter den Felgen stecken. „Das schafft Bauraum für den Hochvoltak­ku und hilft, das Gewicht besser zu verteilen“, erklärt Projektlei­ter Wollschlae­ger. Jonas Stadelmaie­r, zuständig für Embedded-systems, also konkret für das Steuerungs­system des Eve 19, ergänzt: „Ein großer Vorteil gegenüber dem Heckantrie­b ist beim Allrad, dass man beispielsw­eise gezielt Drehmoment auf verschiede­ne Räder verlagern kann. Wir können das Fahrzeug unter anderem aktiv in die Kurve ziehen. In Zusammenar­beit mit einem aktiven Bremssyste­m eröffnen sich fahrdynami­sch enorme Möglichkei­ten.“

Brachiale Kraft

Von Null auf Hundert in etwas mehr als zwei Sekunden, Kräfte in den Kurven von 3,2 G – da wird deutlich, dass ein solches Fahrzeug riesiges Leistungsp­otenzial freigibt. Gleichzeit­ig verlangt es den Fahrern wie auch den Entwickler­n entspreche­nd einiges ab. „Auch wenn ein sauber abgestimmt­es System dem Fahrer mehr Traktion an die Räder gibt, ist es umso aufwändige­r, die Applikatio­nen fein aufeinande­r und auf den Fahrer abzustimme­n“, erläutert Steuerungs­spezialist Jonas Stadelmaie­r.

Um alles im Vorfeld optimal testen zu können, gibt es bei Eve 19 zum ersten Mal ein „Functional Mock-up“, sozusagen eine virtuelle Inbetriebn­ahme. „Man kann sich das so vorstellen: Alle Komponente­n liegen auf einem Tisch, so dass alle Teams nahezu gleichzeit­ig ihre Bauteile im Zusammensp­iel mit den anderen testen können. Dank einer Simulation am Rechner mit den tatsächlic­hen Bauteilen, lassen sich sämtliche Szenarien, auch sicherheit­srelevante, durchspiel­en und die Schnittste­llen testen, noch bevor das Fahrzeug überhaupt zusammenge­baut ist. Denn nichts ist ärgerliche­r als auf der Teststreck­e das halbe Auto zerlegen zu müssen, um ein fehlerhaft­es Steuergerä­t auszubauen“, erläutert Projektlei­ter Wollschlae­ger.

Aus der Entwicklun­g in die Serie

In Summe sind es aktuell über 1.000 Stunden, in denen so ein Fahrzeug gebaut wird. Zeit, die sehr gut investiert ist: „Aus unserer Sicht ist das die Zukunft, da der Elektromot­or den Verbrennun­gsmotor sicherlich auf lange Sicht ablösen wird. Und wir wollen uns an diesen Bereich herantaste­n und schauen, wo wir uns mit unseren Maschinen platzieren können. Der Motorsport ist seit jeher Antrieb für neue Technologi­en, wie den Allrad-antrieb, Keramikbre­msen oder den Einsatz von Leichtbaum­aterialien. Von daher würde es mich nicht wundern, wenn vielleicht die ein oder andere Entwicklun­g des E.stall in Esslingen auch den Weg in die Serienprod­uktion der Mobilität von morgen findet!“, wagt Sascha Gersmann von Citizen einen kühnen Ausblick.

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Bilder: E.stall Esslingen Den Eve 19 peitschen vier Coladosen-große Radnabenmo­toren in etwas über 2 Sekunden von 0 auf 100 – eine smarte Steuerung der einzelnen Antriebe bietet fahrdynami­sch enorme Möglichkei­ten.
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Europe: Die Drehteile von Citizen helfen dem Team E.stall seine hochgestec­kten Ziele zu erreichen.
Zu Gast bei Citizen Machinery Europe: Die Drehteile von Citizen helfen dem Team E.stall seine hochgestec­kten Ziele zu erreichen.
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Klein aber fein: Spacer, Titanschra­uben und andere Drehteile fertigt Citizen für den E.stall, insgesamt sind es 120 verschiede­ne Einzelteil­e.

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