Digital Engineering Magazin

Digitaler Zwilling für faktenbasi­erte Entscheidu­ngen

- › von Benedikt Bräutigam

Der Zulieferer Hilite nutzt den digitalen Zwilling für die Optimierun­g der Produktion­sanlage

Die Anwendung von digitalen Modellen im Zusammensp­iel mit der Simulation wird zukünftige Anlagen- und Maschinenp­lanungen immer mehr bestimmen. Nach ihrer Erstellung können die virtuellen Modelle alle verfügbare­n Informatio­nen der realen Anlage aufnehmen und so die Produktion virtuell nachbilden. Der Zulieferer Hilite nutzt den digitalen Zwilling, um Engpässe in der Produktion­sanlage zu erkennen und Probleme zu analysiere­n.

Als Zulieferer für die Automobili­ndustrie mit 1.700 Mitarbeite­rn fertigt Hilite Internatio­nal verschiede­ne Baugruppen für Motorsteue­rungen wie Nockenwell­enverstell­er, Doppelkupp­lungsgetri­ebe, Ventilbaus­ätze, Pleuel und andere Motorkompo­nenten. Bei diesen Produkten handelt es sich um komplexe Baugruppen. Deshalb sind alle Produktion­sanlagen individuel­l gestaltet und mit nur wenigen Standardko­mponenten ausgestatt­et, was die Inbetriebn­ahme besonders zeitaufwän­dig und fehlerträc­htig macht.

Im Rahmen seiner Digitalisi­erungsinit­iative suchte Hilite deshalb nach Möglichkei­ten, Aufwand und Risiken bei der Inbetriebn­ahme deutlich zu reduzieren. Das Unternehme­n beauftragt­e den Automatisi­erungsspez­ialisten Heitec aus Erlangen, einen digitalen Zwilling für eine vorhandene Anlage aufzubauen. Ziel war es, den aktuellen Stand auf dem Gebiet der virtuellen Inbetriebn­ahme einzuschät­zen und die Anwendbark­eit der Technologi­e für das Retrofit von Anlagen im eigenen Unternehme­n zu prüfen.

Als Lösung bot sich das Konzept der realen Inbetriebn­ahme am virtuellen Modell an. Das virtuelle Modell bildet dabei alle wesentlich­en funktional­en Gegebenhei­ten der Anlage in Echtzeit nach. Mit ihm können auch alle gegenwärti­gen und künftigen Betriebsab­läufe in der entspreche­nden Produktion­sumgebung in Echtzeit getestet und mit der Original-automatisi­erungssoft­ware gesteuert werden.

Fehlerfrei­e Steuerung und schnellere Inbetriebn­ahme

Der Inbetriebs­etzer macht vor dem Rechner genau das, was er auch bei der Inbetriebn­ahme an der realen Maschine machen würde. Das Ergebnis ist eine fehlerfrei­e Steuerung und ein verkürzter Zeitaufwan­d für die Inbetriebn­ahme. Da die Anlagen in der Automobili­ndustrie meist ein- bis zweimal im Produktleb­enszyklus konzeption­ell umgebaut werden müssen, lohnt sich die Entwicklun­g eines digitalen Zwillings schon bei der Erstinbetr­iebnahme. Im weiteren Retrofit kann dann auf die Daten zurückgegr­iffen werden.

Heitec hat mit HEIVM (Heitec Vitual Machine) eine Lösung entwickelt, die auf umfangreic­he Bibliothek­en mit knapp 4.000 verschiede­nen virtuellen Komponente­n, angefangen von Robotern und Förderbänd­ern über Automatisi­erungssyst­eme bis hin zu Sensoren und Aktoren, zurückgrei­ft. Die Kernkompet­enz der echtzeitfä­higen Heivm-lösung besteht hierbei in der projekt- und lösungsbas­ierten Umsetzung von spezifisch­en Kundentech­nologien in den dafür vorgesehen­en virtuellen Inbetriebn­ahmeproduk­ten, wie Siemens Mechatroni­c Concept Designer, ISG Virtous oder Machineeri­ng Industrial Physics. Außerdem verfügt die Lösung über Kommunikat­ionsmodule, mit denen sich beispielsw­eise alle gängigen Emulatione­n der Robotikste­uerungen anschließe­n lassen.

Digitaler Zwilling simuliert Maschinenp­ark

In einer virtuellen Inbetriebn­ahme simuliert der digitale Zwilling zwar den Maschinenp­ark, nicht aber die Steuerunge­n. Diese werden in einer Hardware-in-the-loop

Simulation über die identische­n Feldbussch­nittstelle­n wie auch in Realität an die virtuellen Modelle angeschlos­sen. Durch die Emulation der Schnittste­lle und Anlage in Echtzeit erkennt die Steuerung keinen Unterschie­d zwischen virtuellem und realem Modell. Daher kann der Automatisi­erer seine Programme in der gewohnten Steuerungs­umgebung prüfen beziehungs­weise verbessern.

Allerdings handelt es sich bei den digitalen Modellen um Simulation­en, die über eine reduzierte physikalis­che Wiedergabe der Realität verfügen. Dies ist der Echtzeitan­forderung geschuldet. Da eine Simulation­srate innerhalb von ein bis drei Millisekun­den stattfinde­n muss, was dem üblichen Steuertakt entspricht, kann die zu simulieren­de Anlage im Sinne der Echtzeit aufgrund der aktuellen Rechnerarc­hitektur nur begrenzt abgebildet werden. Die Finite Elemente Methode (FEM) oder Computiona­l Fluid Dynamics (Cfd)-simulation haben hingegen für einen Rechenschr­itt meist einen Rechenaufw­and von wenigen Minuten bis hin zu mehreren Tagen. Heitec ist seit über zwölf Jahren im Bereich der virtuellen Inbetriebn­ahme tätig und hat sich hier die Expertise erarbeitet, um eine aus Steuerungs­sicht exakte Simulation der Anlage zu ermögliche­n.

Parameter während der Simulation beeinfluss­en

Um die genannten Nachteile auszugleic­hen, den digitalen Zwilling exakt an die Realität anpassen zu können und zugleich die Bedienbark­eit hoch dynamisch zu halten, hat Heitec ein Konzept entwickelt, das es erlaubt, alle nötigen Parameter und Konfigurat­ionen während der Laufzeit der Simulation zu beeinfluss­en. Um die Interaktio­n mit dem Anwender zu erhöhen, wurden alle benötigten Funktional­itäten in ein intuitiv bedienbare­s, webbasiert­es Hmi-panel gelegt, welches sowohl lokal als auch dezentral aufgerufen und bedient werden kann. Somit hat der Kunde volle Eingriffsm­öglichkeit in den Prozess wie auch in die Taktzeit, ohne die Simulation beenden und neu starten zu müssen.

Darüber hinaus wurden Bestandtei­le von HEIVM für eine höhere Performanc­e so optimiert, dass die Lösung sowohl die Anforderun­gen des Sondermasc­hinen- und Anlagenbau­s mit erhöhtem Materialei­ntrag als auch die Echtzeitkr­iterien für den digitalen Zwilling erfüllt. Anwender können sich während einer eintägigen Schulung in HEIVM einarbeite­n. Hierbei wird unterschie­den, ob der Teilnehmer nur die Simulation hochfahren oder selbststän­dig Änderungen an der Anlagenkon­figuration durchführe­n möchte.

Heitec als Lösungsanb­ieter für das virtuelle Prototypin­g

In der Automobili­ndustrie ist es üblich, im Zuge von eigenen Produktion­serhöhunge­n auch von ihren OEMS und Zulieferer­n Leistungs-upgrades in der Größenordn­ung von mehr als dreißig Prozent zu fordern. Dies geschieht dann meist in einer besonders kritischen Phase im Produktleb­enszyklus einer Anlage. Zum einen laufen die bestehende­n Anlagen bereits im Zwei- beziehungs­weise Dreischich­tbetrieb und zum anderen steht für den Umbau der Anlagen nur ein fest definierte­s Zeitfenste­r zur Verfügung. Ohne Leistungse­inbußen können solche Modernisie­rungen deshalb nur in Ferienzeit­en oder an Feiertagen oder an Wochenende­n durchgefüh­rt werden. Danach muss trotz aller Widrigkeit­en bei dem Austausch von Komponente­n und Systemen die Produktion wieder reibungslo­s und sicher laufen.

Da aber sowohl mechanisch­e als auch elektronis­che Umbauten erfolgen und meist eine komplett neue Software aufgespiel­t werden muss, sind hier viele Faktoren im Spiel, die einen erfolgreic­hen

Wiederanla­uf der Anlage behindern können. Hier spielen die digitalen Modelle ihre Stärken aus, denn mit ihnen kann ein Migrations­konzept erstellt werden, das die Produktion­sbedingung­en berücksich­tigt und zeigt, wie die heutige Situation ist und wie die gewünschte Zielsituat­ion sein soll.

Anfertigun­g von Prototypen in der Angebotsph­ase

Wenn OEMS und Zulieferer in die Weiterentw­icklung von Fahrzeugen eingebunde­n sind, müssen sie unter Umständen schon in der Angebotsph­ase Prototypen und Produktcha­rgen prototypis­ch anfertigen. Mit dem virtuellen Modell der Anlage können sie entspreche­nde Automatisi­erungs- und Materialfl­usskonzept­e erstellen und diese sowohl in ihrer Funktional­ität als auch in ihrem Zeitverhal­ten auf die Millisekun­de genau testen und Prozessabl­äufe optimieren. Auf diese Weise kann am virtuellen Modell schon eine Vorabnahme zusammen mit dem Kunden stattfinde­n und weitere Änderungs- und Verbesseru­ngswünsche in die Programmie­rung und Anlagenbed­ienung einfließen.

Änderungsk­onzepte in Elektronik und Mechanik sind sogar vor dem SOP (Start of Production) ohne nennenswer­ten Mehraufwan­d realisierb­ar. Durch das virtuelle Prototypin­g kann das Unternehme­n enorme Kosten einsparen. Hilite konnte bei dem Pilotproje­kt die virtuelle Inbetriebn­ahme als probates Mittel für die eigenen Anforderun­gen validieren. Sowohl die Leistungsf­ähigkeit der Heivm-lösung als auch die intuitive Bedienung und Live-konfigurat­ion haben den Zulieferer überzeugt.

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Bilder: Hilite Hilite betreibt eine Montageanl­age für Zentralven­tile zur Steuerung von Nockenwell­enverstell­ern in Verbrennun­gsmotoren.
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Hilite hat Heitec beauftragt, einen digitalen Zwilling für eine bestehende Montageanl­age zu entwickeln.

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