Afghanistan-Krise
Welche TV-Sender überhaupt noch senden – und was
Nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan hat es nur wenige Tage gedauert, bis die Taliban die vollständige Kontrolle über das Land am Hindukusch übernommen haben. Am 15. August 2021 sind sie in der Hauptstadt Kabul einmarschiert und haben die Regierungsgeschäfte an sich gerissen. Doch was bedeutet das nun für das afghanische Fernsehen?
Von 1995 bis Oktober 2001 beherrschten die Taliban bereits weite Teile Afghanistans. Ihre Schreckensherrschaft ist vielen in schlechter Erinnerung geblieben. Dementsprechend groß war und ist die Angst der afghanischen Bevölkerung und von allen Ausländern, was die Zukunft bringen wird.
Viel zu lachen hatten die Afghanen während der ersten Taliban-Herrschaft nicht. Diese verboten Sport und Musik. Im Radio waren nur noch religiöse Gesänge zulässig. Weiter schafften sie das Fernsehen ab. TV-Geräte und Videorekorder wurden eingesammelt. Bilder von Bergen konfiszierter Fernseher wurden damals auch in unseren Nachrichtensendungen gezeigt. Nachdem 2001 auch noch das TV-Gebäude in Kabul bei einem Angriff zerstört worden war, musste die gesamte TV-Infrastruktur nach Einmarsch der USTruppen mit tatkräftiger Unterstützung der britischen BBC neu aufgebaut werden. Auch Privatsender fassten Fuß und sorgten während der letzten zwei Jahrzehnte für eine bunte Medienlandschaft.
Afghanisches TV bricht zusammen
Diese hat mit dem 15. August 2021 ein jähes Ende gefunden. Dank des bei uns leicht empfangbaren TurkmenÄlem/ MonacoSat auf 52 Grad Ost waren auch wir Zeuge, wie die 14 über diesen Satelliten ausstrahlenden Stationen, darunter die beiden Programme des Staatsfernsehens, sozusagen im Chaos versunken sind. Vor allem bei den Privaten dürfte die Angst tief gesessen haben. Sechs Stationen haben ihren Sendebetrieb vollständig eingestellt und übertrugen meist nur noch Schwarzbilder. AYTV, der afghanische Jugendkanal, strahlte knapp zwei Tage nur das Stationslogo aus, ehe auch dieses vom Bildschirm verschwand. Jenes von ASR TV währte mehrere Tage. Bis in den 17. August schienen die Programme, die auf Sendung geblieben waren, ein – nennen wir es – politisch unbedenkliches Programm zu senden. Auf dem Staatssender RTA dominierten Koranlesungen, meist mit formatfüllenden arabischen Texttafeln. Auf RTA Sport, dem zweiten staatlichen Kanal, gab es aus der Konserve diverse Sportübertra
gungen zu sehen. Darunter mehrmals dasselbe Handball-Spiel oder etwa die Aufzeichnung einer mit „Live“gekennzeichneten Übertragung eines KricketSpiels aus dem Kricketstadion Kabul. Auf einem Sender wurde tagelang in Endlosschleife Mathematik unterrichtet, auf einem anderen, wie man arabische Schriftzeichen zu schreiben lernt und auf einem weiteren wurde immer wieder ein Film über Zahnbehandlungen gezeigt. Weitere Stationen zeigten Naturaufnahmen, untermalt mit für uns religiös anmutenden Gesängen. Was es aber für zwei Tage nicht zu sehen gab, waren aktuelle Nachrichten. Erst nach zwei Tagen wurden erste zaghafte Versuche gesichtet, bei denen zumindest Passanten zum aktuellen Geschehen im Land befragt wurden. Ob diese vor der Kamera des Staatssenders wirklich gesagt haben, was sie denken, sei dahingestellt.
News aus dem Ausland
Derzeit werden die Afghanen nur über ausländische Medien über das Geschehen im Lande informiert. Erste Adresse dafür ist die TV-Station Afghanistan International aus Großbritannien, die, genauso wie die anderen afghanischen TV-Sender, auf 52 Grad Ost aufgeschaltet sind. Obwohl es sich um einen britischen Privatsender handelt, legt man hohen Wert auf objektive Berichterstattung. Weiter bietet sich die ebenfalls auf 52 Grad Ost präsente US-Station Ariana Afghanistan International TV an, die Nachrichten aus amerikanischer Sichtweise – Stichwort VoA – bringt.
Erste Erholung?
Rund 48 Stunden nach der Machtübernahme der Taliban wurde im afghanischen Staatsfernsehen RTA eine große Pressekonferenz der neuen Machthaber, die unter anderem auch von CNN übernommen wurde, live ausgestrahlt. Diese haben einige Stationen zum Anlass ge
nommen, ihren Sendebetrieb wieder aufzunehmen. Zu ihnen zählt Hewat TV, auf dessen Programmplatz nun Afghanistan International zu sehen ist. Auf zwei Privatsendern
Die Geschichte hat erst begonnen
Wie sehr wir am Anfang der „neuen“Fernsehgeschichte in Afghanistan stehen, zeigten uns alleine die Veränderungen, während wir an diesem Artikel arbeiteten. So wurden etwa am Nachmittag (Ortszeit Afghanistan) des 18. August die beiden RTA-Programme abgeschaltet. Auch Hewad TV, das erst am Abend zuvor mit der Übernahme von Afghanistan International zurückgekehrt ist, musste vermutlich seinen Betrieb wieder einstellen. Zu sehen gab es nur noch ein grünes Bild. Es bleibt also extrem spannend, was da noch alles geschehen wird. Bleibt uns als Zaungast eigentlich nur, der afghanischen Bevölkerung alles Gute zu wünschen.
wurden zudem Spielfilme ausgestrahlt. Im Gegenzug zeigten nun andere zuvor aktive Stationen wie 11TV und Ghaznawyan TV nur noch Schwarzbilder.
Satellitenempfang extrem wichtig
Entwicklungen wie jene in Afghanistan beweisen einmal mehr, wie unschätzbar wichtig der freie und ungehinderte Zugang zu Informationen und allgemein Medien aller Art ist. Hier arbeitet heute nur der Satellit grenzüberschreitend und ist für viele mit geringem Aufwand erreichbar. Klar liegt heutzutage Streaming voll im Trend. Ist ja auch bequem, immer und überall über das Smartphone Zugang zu TV-Sendern und Mediatheken zu haben. Doch mit dieser anscheinend grenzenlosen Freiheit ist es schnell vorbei, wenn Machthaber den Internetverkehr einschränken oder das „Netz“im Lande ganz abschalten – was in der Vergangenheit ja beinahe schon der Regelfall bei politischen Krisen in aller Welt war. Und vom Internet-Aus-Knopf Gebrauch zu machen, ist auch den Taliban zuzutrauen.
Stichwort Unterhaltung
Es ist davon auszugehen, dass Unterhaltungssendungen, wie etwa westliche Serien und Spielfilme, aber auch Popmusik aus der Region künftig in afghanischen TV-Stationen bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen werden. Dennoch brauchen die Afghanen nicht darauf zu verzichten. Denn sie profitieren ebenfalls von den zahlreichen auf 52 und 52,5 Grad Ost aufgeschalteten TV-Sendern, die aus dem Ausland Programm für den Iran machen. Das in Afghanistan gesprochene
Dari unterscheidet sich dabei kaum vom im Iran gesprochenen Farsi. Beides sind im Wesentlichen nur zwei Varianten des Persischen, sodass die rund 80 Prozent der Afghanen, die Persisch verstehen, nun von den Satellitenkanälen für den westlichen Nachbarn profitieren können. TurkmenÄlem/Monacosat auf 52 Grad Ost und Al Yah 1 auf 52,5 Grad Ost sollten in Afghanistan bereits mit Antennendurchmessern um 40 bis 45 Zentimeter gut zu bekommen sein. Diese Schüsselgröße lässt sich zudem gut verstecken, sodass ein vielleicht künftig untersagter Sat-Empfang zumindest im Geheimen weiter möglich sein kann.
Wie geht es weiter?
Was die nächsten Tage, Wochen und Monate bringen, kann niemand sagen. Ob sich noch einmal ein TV-Verbot, so wie 1996, in Afghanistan durchsetzen lässt, ist fraglich. Man muss aber davon ausgehen, dass die TV-Stationen im Lande mindestens ihre Unabhängigkeit verlieren werden. Sicher werden schon bald mehrere Sender ihre Pforten schließen müssen. Weiter ist mit einer radikalen Umstellung der gezeigten Inhalte zu rechnen, bei denen religiöse Themen wohl stark an Bedeutung gewinnen werden. Für das staatliche RTA lässt sich das bereits unmittelbar seit der Machtübernahme festhalten.
Es empfiehlt sich jedenfalls, die afghanischen TV-Programme auf 52 Grad Ost im Auge zu behalten. Sie vermitteln uns zeitnah, wie die Entwicklung im Land weitergeht. Dazu braucht man nur das Gesehene und eben Nicht-Gesehene zu interpretieren. Interessant wird auch sein, was die neuen Machthaber mit dem Medium Fernsehen im Lande langfristig noch vorhaben.
Links
www.afintl.com
Homepage/Livestream des britischen Senders Afghanistan International.
www.arianaafgtv.com
Homepage der US-Station Ariana Afghanistan International TV.
www.rta.af
Die Homepage des Staatssenders RTA ist derzeit „under construction“.