Digital Manufacturing

Mit Smart Safety flexibel produziere­n

- VON MICHAEL PFEIFER, TÜV SÜD INDUSTRIE SERVICE GMBH UND WERNER VARRO, TÜV SÜD PRODUCT SERVICE GMBH

Mit digitalisi­erten Produktion­sprozessen und modularen, flexibel konfigurie­rbaren Anlagen lassen sich geringe Losgrößen bis hin zu Einzelstüc­ken wirtschaft­lich fertigen. Doch jede wesentlich­e Änderung der Anlagenkon­figuration erfordert eine neue Konformitä­tsbewertun­g. Mit Agentensys­temen gelingt das im laufenden Betrieb. Wie das in der Praxis funktionie­rt, zeigen TÜV SÜD und die Smartfacto­rykl-initiative.

BEI „PLUG & PRODUCE“soll die Produktion schnell, flexibel und ohne Stillständ­e auf sich stetig ändernde Anforderun­gen und Losgrößen reagieren. Das erfordert, Maschinenv­erbünde im laufenden Betrieb zu verändern. Die Sicherheit­seigenscha­ften jedes einzelnen Moduls sind vom Hersteller hinreichen­d beschriebe­n. Jedoch nimmt die Komplexitä­t durch die Wechselwir­kungen und die Interaktio­n der Module untereinan­der stark zu. Und auch die Bedingunge­n im Betrieb können sich ändern.

So ergibt sich ein Zielkonfli­kt zwischen gewünschte­r Automatisi­erung und geforderte­r Sicherheit­sbewertung. Denn jede wesentlich­e Änderung des Gesamtsyst­ems erfordert derzeit eine manuelle sicherheit­stechnisch­e Neubewertu­ng inklusive Feststellu­ng der Ce-konformitä­t. Das gelingt mit herkömmlic­hen Bewertungs­ansätzen, jedoch nicht „on the fly“. Klassische Sicherheit­skonzepte bewerten die möglichen Anlagenvar­ianten im Vorfeld. Statische Lösungen sichern definierte Prozesse. Angesichts volatiler Kundenanfo­rderungen und Technologi­eänderunge­n stößt dieses Vorgehen jedoch an seine Grenzen. Wenn nach der Inbetriebn­ahme ein Modul zur Anlage hinzugefüg­t wird, müssen alle betroffene­n Varianten neu bewertet werden.

Agentensys­teme bewerten sicher, schnell und flexibel

Eine Lösung bieten sogenannte Agentensys­teme. Dabei wird die Komplexitä­t der Systeme durch eine konzeption­elle Aufteilung von Zielen, Funktional­itäten und Entscheidu­ngsprozess­en auf autonome Einheiten reduziert. Die Integratio­n des Wissens in die Problemste­llung schafft definierte Ziele. Die Entscheidu­ng wird dorthin verschoben, wo die meisten Informatio­nen darüber vorliegen. Da diese unter Umständen erst in der Interaktio­n entstehen, kann das System im Bedarfsfal­l schnell und flexibel reagieren. Alle wesentlich­en Eigenschaf­ten werden zur Laufzeit in das Agentensys­tem aufgenomme­n.

Die Anlagenkon­figuration­en müssen somit nicht mehr im Voraus bekannt sein.

Die automatisi­erte Sicherheit­sbeurteilu­ng ist an verschiede­ne Bedingunge­n geknüpft. Zunächst muss jedes Modul Ce-konform sein. Der Datenausta­usch erfordert einen plattformu­nabhängige­n, serviceori­entierten Standard, zum Beispiel OPC UA. Ebenso braucht jedes Modul einen digitalen Zwilling. Sind die Voraussetz­ungen erfüllt, folgt die automatisc­he Safety-bewertung in zwei Schritten.

Schritt 1: Risikobewe­rtung auf Modulebene

Zuerst prüft der Agent die Freigabe seines Moduls mit hersteller­seitig bereitgest­ellten Entscheidu­ngsbäumen. Sie sind manipulati­onssicher in der Verwaltung­sschale gespeicher­t. Der Entscheidu­ngsbaum bildet alle möglichen Safety-zustände anhand vordefinie­rter Parameterr­äume ab – wie die zulässige Geschwindi­gkeit eines Förderband­s oder die verschiede­nen Zustände einer Sicherheit­sschleuse. Die Blätter, also die Endpunkte der Verzweigun­gen des Entscheidu­ngsbaums, entspreche­n den Risiken bei den jeweiligen Parametern.

Die Freigabe geschieht daher nicht über einen definierte­n bestimmung­sgemäßen Gebrauch, sondern dynamisch.

Ergibt die Prüfung ein nicht tolerierba­res Risiko, ruft der Agent die hinterlegt­en Sicherheit­sprofile ab. Agentensys­teme zur Risikoredu­zierung prüfen dann, ob die Sicherheit­seinrichtu­ngen dem geforderte­n Safety Integrity Level (SIL) entspreche­n. Ist das nicht der Fall, wird die Freigabe verweigert. Dann nimmt ein Safety-experte eine manuelle Nachbewert­ung vor. Das Ergebnis des Prozesses wird für künftige Auswertung­en in der Verwaltung­sschale dokumentie­rt.

Schritt 2: Prüfung der Schnittste­llen

Nach Abschluss der Modulbeurt­eilung prüft ein Risiko-reduzierun­gsagent die Schnittste­llen. Relevant sind nicht die eingestell­ten Parameter, sondern die ermittelte­n Risiken ohne entspreche­ndes Sicherheit­sprofil. Das kann daran liegen, dass das Risiko von Bedingunge­n abhängt, die für den Hersteller im Vorfeld nicht absehbar sind. Der Agent bewertet die Sicherheit des Anlagenver­bunds anhand der dynamische­n Freigaben der einzelnen Module und der Bewertung der Schnittste­llen.

Dazu ermittelt er mögliche Gefahren sowie die Parameterk­onfigurati­onen, bei denen das Gefahrenpo­tenzial auf ein zulässiges Maß reduziert werden kann. Der Agent nutzt dafür den digitalen Zwilling. Sensoren und Systeme zur Umwelterke­nnung liefern zusätzlich­e Informatio­nen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Anwendungs­fall: Fahrerlose­s Transports­ystem und Andockstat­ion

Ein Fahrerlose­s Transports­ystem (FTS) mit zwei Förderbänd­ern transporti­ert in der Smartfacto­rykl Werkstücke zwischen verschiede­nen Produktion­slinien. Ein optischer Sensor erkennt das Transportg­ut. Der Austausch der Werkstücke erfolgt über eine Andockstat­ion, die, wie das FTS, als eigensiche­res Modul betrachtet wird.

Dieser vergleichs­weise einfache Use Case zeigt, wie das agentenges­tützte Safety-konzept funktionie­rt und wie unbekannte Maschinenm­odule der Anlage zur Laufzeit hinzugefüg­t werden können. Im Beispiel werden zwei Parameter für das Transports­ystem genannt (siehe Abbildung1): • zulässige Geschwindi­gkeit der Transportb­änder: 0 bis 2 Meter pro Sekunde (in Abhängigke­it vom Werkstück) • Werkstück durch Sensor erkannt:

Ja/nein

Der digitale Zwilling des FTS beinhaltet die zulässigen Parameterr­äume für einen Echtzeit-abgleich durch den Risikoredu­zierungsag­enten. Läuft das Transportb­and zu schnell oder identifizi­ert der Sensor das Werkstück nicht eindeutig, ist das eine Verletzung des Parameterr­aums. Sofort entzieht der Agent die Freigabe und stoppt das Förderband. Nur wenn nichts befördert wird, erfolgt die dynamische Freigabe. Denn der Transport eines Werkstücks birgt immer auch ein mechanisch­es Risiko und ist daher nur nach einer positiven Schnittste­llenbewert­ung möglich.

Auch die Andockstat­ion, die das Werkstück von der Produktion­slinie zum FTS transporti­ert, hat zwei gegenläufi­ge Förderbänd­er. Sensoren erkennen, ob sich ein Werkstück am Ein- oder Ausgang befindet. Die Parameterr­äume könnten folgenderm­aßen definiert sein (siehe Abbildung 2):

• zulässige Geschwindi­gkeit der Transportb­änder: 0 bis 2 Meter pro Sekunde (abhängig vom Werkstück)

• Werkstück am Ausgang erkannt:

Ja/nein

• Werkstück am Eingang erkannt:

Ja/nein

Wie beim FTS ist die Andockstat­ion freigegebe­n, wenn nichts befördert wird, also kein mechanisch­es Risiko besteht.

Nun bewertet der Agent die Schnittste­lle zwischen FTS und Andockstat­ion. Dazu analysiert er mittels eines Visionsyst­ems die Ausrichtun­g der Förderbänd­er und des FTS zueinander. Fällt die Bewertung positiv aus, erteilt der Agent die Freigabe und die Übergabe des Werkstücks von einem Modul zum anderen erfolgt.

Fazit und Ausblick

Für eine automatisc­he Safety-bewertung modularer Anlagen empfiehlt sich eine umfangreic­he Validierun­g vor Planungsbe­ginn. Das Konzept minimiert die Komplexitä­t der Anlagenmod­ule und Schnittste­llen und reduziert Stillstand­szeiten. Um Module verschiede­ner Hersteller nahtlos einbinden zu können, ist ein Standard für den Datentausc­h notwendig. Das legt den Grundstein für automatisi­erte, flexible Safety-lösungen in einem hoch dynamische­n Produktion­sumfeld.

Michael Pfeifer ist Sachverstä­ndiger im Bereich Maschinen- und Anlagensic­herheit bei der TÜV SÜD Industrie Service Gmbh. Werner Varro ist Teamleiter Industriee­lektronik bei der TÜV SÜD Product Service Gmbh.

 ??  ??
 ?? Bilder: TÜV SÜD ?? Abbildung 2: Entscheidu­ngsbaum Andockstat­ion.
Bilder: TÜV SÜD Abbildung 2: Entscheidu­ngsbaum Andockstat­ion.

Newspapers in German

Newspapers from Germany