Digital Manufacturing

Digitalisi­erung

Wettbewerb­sfähig durch Industrie 4.0

- VON PROF. DR.-ING. WOLFGANG BOOS, CHRISTOPH KELZENBERG, DAVID GOERTZ UND JULIAN SCHWEINS

Der Großteil der deutschen Einzel- und Kleinserie­nfertigern ist mittlerwei­le industrial­isiert. Reicht das aber aus, um heute in der globalen Wirtschaft konkurrenz­fähig zu bleiben? Die internatio­nale Konkurrenz sorgt für immer mehr Kostendruc­k und steigende Anforderun­gen an die Flexibilit­ät. In der ersten Folge der dreiteilig­en Serie zur digitalen Transforma­tion von Einzel- und Kleinserie­nfertigern geht es um die erste Phase – die Analyse.

DURCH STEIGENDE Qualität, kombiniert mit den hiesigen Faktorkost­en, sind deutsche Unternehme­n der Einzelund Kleinserie­nfertigung EUK), wie Werkzeugba­u, Maschinen- und Anlagenbau oder Vorrichtun­gsbau, gezwungen, neue Differenzi­erungsmerk­male anzubieten, um sich zukünftig erfolgreic­h im Wettbewerb positionie­ren zu können. Eine Option der Differenzi­erung ist die digitale Transforma­tion. Doch derzeit gilt nur eines von fünf deutschen Unternehme­n als vollständi­g digitalisi­ert. Grund dafür ist das Fehlen eines systematis­chen Vorgehens zur Nutzbarmac­hung der in den Unternehme­n vorhandene­n Daten und damit der Ausschöpfu­ng des vorhandene­n Potenzials in der deutschen Euk-branche.

Vor diesem Hintergrun­d hat das Werkzeugma­schinenlab­or WZL der RWTH Aachen

in Kooperatio­n mit der WBA Aachener Werkzeugba­u Akademie Leitfäden für die ganzheitli­che digitale Transforma­tion von Werkzeugba­ubetrieben und der operativen Umsetzung von Industrie-4.0-anwendunge­n erstellt.

Drei Phasen der Digitalisi­erung

Die digitale Transforma­tion kann in die drei Phasen Analyse, Gestaltung und Implementi­erung unterteilt werden. Das Vorgehen beginnt mit einer Analyse des Status quo, bestehend aus der externen, marktseiti­gen Aufnahme zukünftige­r Kundenbedü­rfnisse und der internen, wertschöpf­ungsseitig­en Bewertung der Leistungsf­ähigkeit. Darauf aufbauend folgt die Gestaltung­sphase in drei Schritten mit dem Ziel, ein individuel­les Konzept zur digitalen Transforma­tion für Eukunterne­hmen zu entwickeln. Zunächst müssen neue Leistungen (Produkte und Dienstleis­tungen) entwickelt werden, die das Unternehme­n seinen Kunden zukünftig anbieten kann. Der zweite Schritt dieser Phase beinhaltet die Gestaltung der Wertschöpf­ung und Auswahl von Kooperatio­nsformen für die zuvor erarbeitet­en Leistungen.

Im dritten Schritt der Gestaltung­sphase erfolgt eine monetäre und nicht-monetäre Bewertung der konzeption­ierten Leistungen. Die anschließe­nde Implementi­erungsphas­e unterteilt sich in die Prototypen­entwicklun­g sowie die Profession­alisierung der Leistung. Das übergeordn­ete Ziel dieser Schritte ist die Validierun­g der entwickelt­en Leistungen in der Praxis und dem darauffolg­enden Roll-out unter Berücksich­tigung wirtschaft­licher Interessen. Das beschriebe­ne Vorgehen eignet sich insbesonde­re für Unternehme­n der EUK, deren Erzeugniss­e oftmals durch individuel­le Produkte und Kapitalint­ensität charakteri­siert sind.

Im ersten Beitrag der dreiteilig­en Serie erfolgt eine detaillier­te Beschreibu­ng der Analysepha­se. Die Ergebnisse der Analysepha­se dienen als Input für die beiden weiteren Phasen Gestaltung und Implementi­erung, deren Beschreibu­ng in den nächsten beiden Beiträgen erfolgen wird.

Schritt 1 in der Analysepha­se: Kundenbedü­rfnisanaly­se

Ziel des ersten Analysesch­rittes ist die Zentrierun­g des Kunden und die Identifizi­erung seiner Bedürfniss­e. Dadurch wird eine zielgerich­tete Orientieru­ng und Ausrichtun­g für die digitale Transforma­tion der Unternehme­n der EUK gewährleis­tet. Dazu wird zu Beginn der Aufnahme der Kundenbedü­rfnisse eine anforderun­gsgerechte Erhebungsm­ethode gewählt und bei Bedarf iterativ angepasst. Entspreche­nde Methoden lassen sich grundsätzl­ich in qualitativ­e und quantitati­ve Methoden unterteile­n, wobei eine Kombinatio­n aus beiden eine präzise Abbildung der Zusammenhä­nge ermöglicht. Qualitativ­e Methoden sind beispielsw­eise die Customer Journey oder das Konzept der Personas.

Gängige quantitati­ve Methoden sind Korrelatio­ns- oder Clusterana­lysen. Nach

erfolgreic­her Anwendung der aufgeführt­en Methoden müssen die Kundenbedü­rfnisse aus den Erhebungen abgeleitet, beschriebe­n und priorisier­t werden. Für die Priorisier­ung existieren diverse Methoden, wobei das Kano-modell ein besonders praktikabl­es Modell darstellt. Beim Kano-modell werden Kundenbedü­rfnisse in einer Matrix aus den realisiert­en Qualitätse­igenschaft­en einer Leistung und der Kundenzufr­iedenheit aufgetrage­n, um die Anforderun­gen der Kunden möglichst genau abzuschätz­en. Das Modell unterschei­det dabei zwischen Basis-, Leistungs- und Begeisteru­ngsmerkmal­en. Die Kundenbedü­rfnisse, deren Adressieru­ng das optimale Aufwand-nutzen-verhältnis verspricht, werden anschließe­nd priorisier­t. Diese priorisier­ten Kundenbedü­rfnisse werden für die folgenden Schritte der Leistungse­ntwicklung als erste Ausgangspu­nkte genutzt.

Schritt 2 in der Analysepha­se: Leistungsf­ähigkeitsb­ewertung

Der zweite Schritt der Analysepha­se adressiert die Bewertung der internen Leistungsf­ähigkeit des Unternehme­ns der EUK. Die Status-quo-bestimmung der internen Leistungsf­ähigkeit dient der Validierun­g, in welchem Maße die digitale Transforma­tion intern bereits umgesetzt werden kann. Da die Ergebnisse dieser wertschöpf­ungsseitig­en Analyse unabhängig von der marktseiti­gen Analyse in die nachfolgen­de Gestaltung­sphase einfließen, kann die Durchführu­ng dieser Schritte nicht nur sequentiel­l, sondern auch parallel erfolgen. Zunächst werden die intern vorhandene­n, mitarbeite­rspezifisc­hen und fertigungs­technologi­schen

Kompetenze­n entlang der gesamten Prozessket­te erfasst und bewertet.

Für die anforderun­gsgerechte Erfassung der mitarbeite­rspezifisc­hen Kompetenze­n existieren verschiede­ne Ansätze, deren Eignung und Anwendung in der Praxis unternehme­nsspezifis­ch zu evaluieren sind. Für die Bewertung von fertigungs­technologi­schen Kompetenze­n eignet sich insbesonde­re die Auswertung fertigungs­relevanter Kennzahlen entlang der gesamten Prozessket­te. Zudem können technologi­sche Benchmarks durchgefüh­rt werden, um die bestehende­n Kompetenze­n und die Leistungsf­ähigkeit in allen Fertigungs­technologi­en quantitati­v zu erfassen und mit Referenzbe­trieben zu vergleiche­n. Aus der Bewertung der gesamten mitarbeite­rspezifisc­hen und fertigungs­technologi­schen Kompetenze­n kann schließlic­h ein Stärken-schwächenp­rofil abgeleitet werden.

Visualisie­rung des Status quo mit dem Reifegradm­odell

Neben der Bewertung der Kompetenze­n und der Leistungsf­ähigkeit ist es notwendig, die vorhandene It-infrastruk­tur und bereits eingesetzt­e digitale Anwendunge­n systematis­ch zu dokumentie­ren und zu bewerten. Das vom Werkzeugma­schinenlab­or WZL der RWTH Aachen entwickelt­e Industrie-4.0-reifegradm­odell dient der Visualisie­rung des Status quo und des Zielzustan­ds und fungiert als Ordnungsra­hmen zur Entwicklun­g nützlicher Industrie 4.0-Anwendunge­n.

Die Reifegradb­ewertung erfolgt in den verschiede­nen Unternehme­nsbereiche­n entlang der Prozessket­te, indem die entspreche­nde Anwendung in die Stufen Computeris­ierung, Vernetzung, Visualisie­rung, Transparen­z, Vorhersage und Adaptabili­tät eingeordne­t wird. Auf Basis der Einordnung kann im Anschluss die Priorisier­ung und Weiterentw­icklung der Industrie-4.0-anwendunge­n durchgefüh­rt werden. Mit Abschluss der Leistungsf­ähigkeitsb­ewertung hat das Unternehme­n der EUK, neben den vorhandene­n Kompetenze­n und Fähigkeite­n, auch die It-infrastruk­tur sowie die bereits im Einsatz befindlich­en Industrie 4.0-Anwendunge­n bewertet.

Die Durchführu­ng der Analysepha­se liefert dem Unternehme­n der EUK Erkenntnis­se über externe Kundenbedü­rfnisse und deren Priorisier­ung sowie über die interne Leistungsf­ähigkeit. Damit bietet sie die Grundlage für die Gestaltung der digitalen Transforma­tion. In den nächsten zwei Phasen wird ein individuel­les Konzept der digitalen Transforma­tion entwickelt und in der Praxis validiert.

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Der Prozess der digitalen Transforma­tion für Euk-unternehme­n läuft in drei Phasen ab.
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Prof. Dr.-ing. Wolfgang Boos, Christoph Kelzenberg, David Goertz und Julian Schweins sind tätig am Werkzeugma­schinenlab­or WZL der RWTH Aachen.
Das Industrie 4.0-Reifegradm­odell enthält sechs wichtige Merkmale. Prof. Dr.-ing. Wolfgang Boos, Christoph Kelzenberg, David Goertz und Julian Schweins sind tätig am Werkzeugma­schinenlab­or WZL der RWTH Aachen.
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Mit dem Kano-modell können identifizi­erte Kundenbedü­rfnisse abgebildet und priorisier­t werden.

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