Digitalisierung
Wettbewerbsfähig durch Industrie 4.0
Der Großteil der deutschen Einzel- und Kleinserienfertigern ist mittlerweile industrialisiert. Reicht das aber aus, um heute in der globalen Wirtschaft konkurrenzfähig zu bleiben? Die internationale Konkurrenz sorgt für immer mehr Kostendruck und steigende Anforderungen an die Flexibilität. In der ersten Folge der dreiteiligen Serie zur digitalen Transformation von Einzel- und Kleinserienfertigern geht es um die erste Phase – die Analyse.
DURCH STEIGENDE Qualität, kombiniert mit den hiesigen Faktorkosten, sind deutsche Unternehmen der Einzelund Kleinserienfertigung EUK), wie Werkzeugbau, Maschinen- und Anlagenbau oder Vorrichtungsbau, gezwungen, neue Differenzierungsmerkmale anzubieten, um sich zukünftig erfolgreich im Wettbewerb positionieren zu können. Eine Option der Differenzierung ist die digitale Transformation. Doch derzeit gilt nur eines von fünf deutschen Unternehmen als vollständig digitalisiert. Grund dafür ist das Fehlen eines systematischen Vorgehens zur Nutzbarmachung der in den Unternehmen vorhandenen Daten und damit der Ausschöpfung des vorhandenen Potenzials in der deutschen Euk-branche.
Vor diesem Hintergrund hat das Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen
in Kooperation mit der WBA Aachener Werkzeugbau Akademie Leitfäden für die ganzheitliche digitale Transformation von Werkzeugbaubetrieben und der operativen Umsetzung von Industrie-4.0-anwendungen erstellt.
Drei Phasen der Digitalisierung
Die digitale Transformation kann in die drei Phasen Analyse, Gestaltung und Implementierung unterteilt werden. Das Vorgehen beginnt mit einer Analyse des Status quo, bestehend aus der externen, marktseitigen Aufnahme zukünftiger Kundenbedürfnisse und der internen, wertschöpfungsseitigen Bewertung der Leistungsfähigkeit. Darauf aufbauend folgt die Gestaltungsphase in drei Schritten mit dem Ziel, ein individuelles Konzept zur digitalen Transformation für Eukunternehmen zu entwickeln. Zunächst müssen neue Leistungen (Produkte und Dienstleistungen) entwickelt werden, die das Unternehmen seinen Kunden zukünftig anbieten kann. Der zweite Schritt dieser Phase beinhaltet die Gestaltung der Wertschöpfung und Auswahl von Kooperationsformen für die zuvor erarbeiteten Leistungen.
Im dritten Schritt der Gestaltungsphase erfolgt eine monetäre und nicht-monetäre Bewertung der konzeptionierten Leistungen. Die anschließende Implementierungsphase unterteilt sich in die Prototypenentwicklung sowie die Professionalisierung der Leistung. Das übergeordnete Ziel dieser Schritte ist die Validierung der entwickelten Leistungen in der Praxis und dem darauffolgenden Roll-out unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen. Das beschriebene Vorgehen eignet sich insbesondere für Unternehmen der EUK, deren Erzeugnisse oftmals durch individuelle Produkte und Kapitalintensität charakterisiert sind.
Im ersten Beitrag der dreiteiligen Serie erfolgt eine detaillierte Beschreibung der Analysephase. Die Ergebnisse der Analysephase dienen als Input für die beiden weiteren Phasen Gestaltung und Implementierung, deren Beschreibung in den nächsten beiden Beiträgen erfolgen wird.
Schritt 1 in der Analysephase: Kundenbedürfnisanalyse
Ziel des ersten Analyseschrittes ist die Zentrierung des Kunden und die Identifizierung seiner Bedürfnisse. Dadurch wird eine zielgerichtete Orientierung und Ausrichtung für die digitale Transformation der Unternehmen der EUK gewährleistet. Dazu wird zu Beginn der Aufnahme der Kundenbedürfnisse eine anforderungsgerechte Erhebungsmethode gewählt und bei Bedarf iterativ angepasst. Entsprechende Methoden lassen sich grundsätzlich in qualitative und quantitative Methoden unterteilen, wobei eine Kombination aus beiden eine präzise Abbildung der Zusammenhänge ermöglicht. Qualitative Methoden sind beispielsweise die Customer Journey oder das Konzept der Personas.
Gängige quantitative Methoden sind Korrelations- oder Clusteranalysen. Nach
erfolgreicher Anwendung der aufgeführten Methoden müssen die Kundenbedürfnisse aus den Erhebungen abgeleitet, beschrieben und priorisiert werden. Für die Priorisierung existieren diverse Methoden, wobei das Kano-modell ein besonders praktikables Modell darstellt. Beim Kano-modell werden Kundenbedürfnisse in einer Matrix aus den realisierten Qualitätseigenschaften einer Leistung und der Kundenzufriedenheit aufgetragen, um die Anforderungen der Kunden möglichst genau abzuschätzen. Das Modell unterscheidet dabei zwischen Basis-, Leistungs- und Begeisterungsmerkmalen. Die Kundenbedürfnisse, deren Adressierung das optimale Aufwand-nutzen-verhältnis verspricht, werden anschließend priorisiert. Diese priorisierten Kundenbedürfnisse werden für die folgenden Schritte der Leistungsentwicklung als erste Ausgangspunkte genutzt.
Schritt 2 in der Analysephase: Leistungsfähigkeitsbewertung
Der zweite Schritt der Analysephase adressiert die Bewertung der internen Leistungsfähigkeit des Unternehmens der EUK. Die Status-quo-bestimmung der internen Leistungsfähigkeit dient der Validierung, in welchem Maße die digitale Transformation intern bereits umgesetzt werden kann. Da die Ergebnisse dieser wertschöpfungsseitigen Analyse unabhängig von der marktseitigen Analyse in die nachfolgende Gestaltungsphase einfließen, kann die Durchführung dieser Schritte nicht nur sequentiell, sondern auch parallel erfolgen. Zunächst werden die intern vorhandenen, mitarbeiterspezifischen und fertigungstechnologischen
Kompetenzen entlang der gesamten Prozesskette erfasst und bewertet.
Für die anforderungsgerechte Erfassung der mitarbeiterspezifischen Kompetenzen existieren verschiedene Ansätze, deren Eignung und Anwendung in der Praxis unternehmensspezifisch zu evaluieren sind. Für die Bewertung von fertigungstechnologischen Kompetenzen eignet sich insbesondere die Auswertung fertigungsrelevanter Kennzahlen entlang der gesamten Prozesskette. Zudem können technologische Benchmarks durchgeführt werden, um die bestehenden Kompetenzen und die Leistungsfähigkeit in allen Fertigungstechnologien quantitativ zu erfassen und mit Referenzbetrieben zu vergleichen. Aus der Bewertung der gesamten mitarbeiterspezifischen und fertigungstechnologischen Kompetenzen kann schließlich ein Stärken-schwächenprofil abgeleitet werden.
Visualisierung des Status quo mit dem Reifegradmodell
Neben der Bewertung der Kompetenzen und der Leistungsfähigkeit ist es notwendig, die vorhandene It-infrastruktur und bereits eingesetzte digitale Anwendungen systematisch zu dokumentieren und zu bewerten. Das vom Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen entwickelte Industrie-4.0-reifegradmodell dient der Visualisierung des Status quo und des Zielzustands und fungiert als Ordnungsrahmen zur Entwicklung nützlicher Industrie 4.0-Anwendungen.
Die Reifegradbewertung erfolgt in den verschiedenen Unternehmensbereichen entlang der Prozesskette, indem die entsprechende Anwendung in die Stufen Computerisierung, Vernetzung, Visualisierung, Transparenz, Vorhersage und Adaptabilität eingeordnet wird. Auf Basis der Einordnung kann im Anschluss die Priorisierung und Weiterentwicklung der Industrie-4.0-anwendungen durchgeführt werden. Mit Abschluss der Leistungsfähigkeitsbewertung hat das Unternehmen der EUK, neben den vorhandenen Kompetenzen und Fähigkeiten, auch die It-infrastruktur sowie die bereits im Einsatz befindlichen Industrie 4.0-Anwendungen bewertet.
Die Durchführung der Analysephase liefert dem Unternehmen der EUK Erkenntnisse über externe Kundenbedürfnisse und deren Priorisierung sowie über die interne Leistungsfähigkeit. Damit bietet sie die Grundlage für die Gestaltung der digitalen Transformation. In den nächsten zwei Phasen wird ein individuelles Konzept der digitalen Transformation entwickelt und in der Praxis validiert.