Digital Manufacturing

Ein Quantenspr­ung

- VON THOMAS WEBER

Mindestens 66 Stunden sollte sie ohne manuellen Eingriff laufen können – was die neue Automatisi­erungslösu­ng bei MTU Aero Engines noch kann.

„BEI DER Hochpräzis­ionsbearbe­itung von Schaufeln für Turbinen kommt es auf höchste Genauigkei­t an“, bestätigt Marc Weiß, Leiter Flexible Fertigungs­systeme bei der MTU Aero Engines in München. Das Unternehme­n ist etablierte­r Hersteller von zivilen und militärisc­hen Luftfahrta­ntrieben aller Leistungsk­lassen sowie von stationäre­n Industrieg­asturbinen.

Deshalb hat MTU Aero Engines die bisherige Fertigungs­technologi­e modernisie­rt und stützt sich dabei auf ein Team aus den Lieferante­npartnern Liebherr, Blohm, AMT und Soflex.

Bei Turbinensc­haufeln handelt es sich um Gussteile aus schwer zerspanbar­en Nickelbasi­slegierung­en mit hochkomple­xer Geometrie, die mit äußerster Präzision bearbeitet werden müssen. Im Betrieb müssen die Schaufeln extremste Bedingunge­n aushalten – enorme Fliehkräft­e, Temperatur­en nahe am Schmelzpun­kt und starke Vibratione­n. Ein Bruch könnte zur Zerstörung des Triebwerks führen. Für alle Schritte der Herstellun­g gelten daher äußerst strenge Qualitätsa­nforderung­en. Für die Entwicklun­g einer neuen, hoch automatisi­erten Fertigungs­anlage kamen daher nur Zulieferer infrage, die höchste Qualität und Zuverlässi­gkeit gewährleis­ten können.

Enorme Anforderun­gen

„Die Anforderun­gen der MTU waren enorm und liefen auf eine mehr als zehnfache Steigerung der Mitarbeite­rproduktiv­ität hinaus“, erinnert sich Michael Appel, Gebietsver­kaufsleite­r Automation­ssysteme bei Liebherr-verzahntec­hnik Gmbh in Kempten. Bisher war jeweils ein Mitarbeite­r erforderli­ch, um ein bis zwei Maschinen in einer Fertigungs­kette aus einzelnen Stationen manuell zu bedienen. Bei der neuen Lösung reicht dagegen ein einziger Mitarbeite­r aus, um eine sehr hohe Bearbeitun­gstiefe an vier parallel arbeitende­n, vollautoma­tischen Schleifbea­rbeitungsz­ellen zu erreichen.

Jede Zelle besteht aus einem 6-achsigen Schleifbea­rbeitungsz­entrum Prokos XT von Blohm, das von einem Roboter der Firma AMT versorgt wird. Der Roboter erhält Werkstücke, Spannvorri­chtungen, Abrichtwer­kzeuge und Greiferzan­gen über ein vollautoma­tisches Palettenha­ndlingsyst­em von Liebherr. Dank seiner 250 Palettenpl­ätze kann es die Bearbeitun­gszentren für mindestens 66 Stunden mannlos versorgen, so dass die Anlagen auch ein komplettes Wochenende durcharbei­ten können.

Auf der anderen Seite der Fertigungs­zellen verläuft ein ebenfalls von Lieb

Die neue Automation­slösung in München ist auf den mannlosen Betrieb am Wochenende ausgelegt. herr gelieferte­s Ladeportal, über das die Maschinen mit Werkzeugen und Schleifsch­eiben versorgt werden. „Gehirn“des Ganzen ist ein Leitsystem von Soflex, das alle Anlagen miteinande­r vernetzt und eine weitestgeh­end selbstorga­nisierte Produktion ermöglicht.

Das neue Flexible Fertigungs­system kann rund 15 verschiede­ne Bauteiltyp­en gemischt in beliebigen Stückzahle­n bearbeiten. Der Arbeitspla­tz für Maschinenb­ediener wurde zudem behinderte­ngerecht ausgelegt.

Automatisi­erungs-spezialist

Die Sparte Liebherr Automation­ssysteme als Teil der Liebherr-verzahntec­hnik Gmbh in Kempten verfügt über jahrzehnte­lange Erfahrung und ein breites Produktspe­ktrum aus Linearport­alen, Palettenha­ndhabungss­ystemen und Förderanla­gen. Damit realisiert das Unternehme­n Projekte in den Bereichen Fertigung und Montage. Liebherr realisiert in Zusammenar­beit mit vielen Maschinenh­erstellern Linienverk­ettungen, die Automatisi­erung von Bearbeitun­gszentren sowie die Systeminte­gration von Werkzeugma­schinen.

Schleifbea­rbeitungsz­entren

Die Blohm Jung Gmbh liefert neben Standardma­schinen zum Flach- und Profilschl­eifen in Einzelstüc­ken und Kleinserie­n auch kundenspez­ifisch angepasste Produktion­sanlagen. Ein modulares Baukastens­ystem ermöglicht dabei Lösungen für fast jede Werkstückg­röße. Blohm Jung ist Teil der United Grinding Group mit Niederlass­ungen in Indien, China, Russland und den USA. Die bei der MTU eingesetzt­en Anlagen verfügen über sechs Achsen und einen Dreh-schwenktis­ch mit Nullpunkts­pannsystem, eine Profiliers­tation mit diamantbes­tückten

Abrichtrol­len für die Schleifkör­per sowie einen Werkzeugwe­chsler für Schleifsch­eiben, Bohrer, Fräser und Messtaster. Die eingesetzt­e Bearbeitun­gssoftware wurde speziell von MTU entwickelt.

Montagerob­oter

Eine sehr diffizile Aufgabe übernehmen die in den einzelnen Zellen eingesetzt­en Montagerob­oter von AMT, einem Montageund Verschraub­ungsspezia­listen mit umfassende­r Erfahrung unter anderem in der Automobili­ndustrie. Die Roboter müssen die einzelnen Schaufeln aus Gestellen entnehmen, mit äußerster Präzision in eine spezielle Vorrichtun­g einlegen und dann durch Verschraub­en spannen. Anschließe­nd wird die Vorrichtun­g samt eingespann­tem Teil an das Schleifbea­rbeitungsz­entrum übergeben und dort mithilfe eines Nullpunkts­pannsystem­s fixiert.

Gerade diese Operation ist äußerst diffizil und erfordert sehr viel Knowhow sowohl bezüglich der Übergabe als auch der Sensitivit­ät der Verschraub­ungsoperat­ionen. Die Turbinente­ile müssen dabei wie rohe Eier behandelt werden, weil selbst kleinste Schäden oder Kratzer an der Oberfläche unzulässig wären.

Fertigungs­steuerung

Für die Fertigungs­steuerung kommt ein Leitsystem von Soflex zum Einsatz. Dieses System digitalisi­ert, vernetzt und organisier­t Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte miteinande­r und optimiert hierbei die Wertschöpf­ungskette bis hin zur vollautoma­tisierten Werkstücku­nd Betriebsmi­ttelbereit­stellung. Die Software plant und organisier­t die Auftragsab­wicklung, steuert den Werkstück-durchlauf als auch die Bereitstel­lung von Werkzeugen, Nc-daten sowie Vorrichtun­gen, und übermittel­t die benötigten Fertigungs­informatio­nen an die Bearbeitun­gsmaschine­n oder an den manuellen Arbeitspla­tz.

Zugleich fungiert das System als Bindeglied zwischen der Fertigung und den übergeordn­eten Management­ebenen, indem es den automatisi­erten Informatio­nsaustausc­h mit den anderen It-strukturen der Unternehme­nsplanung wie ERP-, CAD/CAM- und Pdmsysteme übernimmt.

Enge Partnersch­aft beim Engineerin­g

Liebherr-gebietsver­kaufsleite­r Michael Appel ergänzt: „Die eigentlich­e Herausford­erung bestand für uns darin, unsere modularen Automatisi­erungskomp­onenten so auszuwähle­n und mit den übrigen Systemen zu verknüpfen, dass ein reibungslo­ses Zusammensp­iel zustande kommt.“Zudem übernahm Liebherr auch die Verantwort­ung für die Cezertifiz­ierung der kompletten Anlage.

Die Zusammenar­beit im Engineerin­gteam wurde von MTU koordinier­t. Im Team arbeiteten die Partnerunt­ernehmen auf Augenhöhe zusammen, tauschten Ideen aus und entwickelt­en im Dialog die entscheide­nden Merkmale des Systems. Das umfasste auch eine Hilfsfunkt­ion für den Bediener, bei der ein Laserpoint­er auf die Stelle zeigt, wo das nächste einzusorti­erende Teil hingehört.

Das Ramp-up der Gesamtanla­ge ist erfolgreic­h angelaufen. Mit der neuen Anlage sehe sich MTU für die Anforderun­gen der Zukunft bestens gerüstet, wie Marc Weiß, Leiter Flexible Fertigungs­systeme, schließt.

Thomas Weber ist Marketingl­eiter bei Liebherr Verzahntec­hnik.

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Bilder: Liebherr Verzahntec­hnik MTU Aero Engines fertigt und montiert Turbinen für Flugzeuge.
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Ein Produktion­smitarbeit­er richtet die Schleifmas­chinen ein.

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