Ein Quantensprung
Mindestens 66 Stunden sollte sie ohne manuellen Eingriff laufen können – was die neue Automatisierungslösung bei MTU Aero Engines noch kann.
„BEI DER Hochpräzisionsbearbeitung von Schaufeln für Turbinen kommt es auf höchste Genauigkeit an“, bestätigt Marc Weiß, Leiter Flexible Fertigungssysteme bei der MTU Aero Engines in München. Das Unternehmen ist etablierter Hersteller von zivilen und militärischen Luftfahrtantrieben aller Leistungsklassen sowie von stationären Industriegasturbinen.
Deshalb hat MTU Aero Engines die bisherige Fertigungstechnologie modernisiert und stützt sich dabei auf ein Team aus den Lieferantenpartnern Liebherr, Blohm, AMT und Soflex.
Bei Turbinenschaufeln handelt es sich um Gussteile aus schwer zerspanbaren Nickelbasislegierungen mit hochkomplexer Geometrie, die mit äußerster Präzision bearbeitet werden müssen. Im Betrieb müssen die Schaufeln extremste Bedingungen aushalten – enorme Fliehkräfte, Temperaturen nahe am Schmelzpunkt und starke Vibrationen. Ein Bruch könnte zur Zerstörung des Triebwerks führen. Für alle Schritte der Herstellung gelten daher äußerst strenge Qualitätsanforderungen. Für die Entwicklung einer neuen, hoch automatisierten Fertigungsanlage kamen daher nur Zulieferer infrage, die höchste Qualität und Zuverlässigkeit gewährleisten können.
Enorme Anforderungen
„Die Anforderungen der MTU waren enorm und liefen auf eine mehr als zehnfache Steigerung der Mitarbeiterproduktivität hinaus“, erinnert sich Michael Appel, Gebietsverkaufsleiter Automationssysteme bei Liebherr-verzahntechnik Gmbh in Kempten. Bisher war jeweils ein Mitarbeiter erforderlich, um ein bis zwei Maschinen in einer Fertigungskette aus einzelnen Stationen manuell zu bedienen. Bei der neuen Lösung reicht dagegen ein einziger Mitarbeiter aus, um eine sehr hohe Bearbeitungstiefe an vier parallel arbeitenden, vollautomatischen Schleifbearbeitungszellen zu erreichen.
Jede Zelle besteht aus einem 6-achsigen Schleifbearbeitungszentrum Prokos XT von Blohm, das von einem Roboter der Firma AMT versorgt wird. Der Roboter erhält Werkstücke, Spannvorrichtungen, Abrichtwerkzeuge und Greiferzangen über ein vollautomatisches Palettenhandlingsystem von Liebherr. Dank seiner 250 Palettenplätze kann es die Bearbeitungszentren für mindestens 66 Stunden mannlos versorgen, so dass die Anlagen auch ein komplettes Wochenende durcharbeiten können.
Auf der anderen Seite der Fertigungszellen verläuft ein ebenfalls von Lieb
Die neue Automationslösung in München ist auf den mannlosen Betrieb am Wochenende ausgelegt. herr geliefertes Ladeportal, über das die Maschinen mit Werkzeugen und Schleifscheiben versorgt werden. „Gehirn“des Ganzen ist ein Leitsystem von Soflex, das alle Anlagen miteinander vernetzt und eine weitestgehend selbstorganisierte Produktion ermöglicht.
Das neue Flexible Fertigungssystem kann rund 15 verschiedene Bauteiltypen gemischt in beliebigen Stückzahlen bearbeiten. Der Arbeitsplatz für Maschinenbediener wurde zudem behindertengerecht ausgelegt.
Automatisierungs-spezialist
Die Sparte Liebherr Automationssysteme als Teil der Liebherr-verzahntechnik Gmbh in Kempten verfügt über jahrzehntelange Erfahrung und ein breites Produktspektrum aus Linearportalen, Palettenhandhabungssystemen und Förderanlagen. Damit realisiert das Unternehmen Projekte in den Bereichen Fertigung und Montage. Liebherr realisiert in Zusammenarbeit mit vielen Maschinenherstellern Linienverkettungen, die Automatisierung von Bearbeitungszentren sowie die Systemintegration von Werkzeugmaschinen.
Schleifbearbeitungszentren
Die Blohm Jung Gmbh liefert neben Standardmaschinen zum Flach- und Profilschleifen in Einzelstücken und Kleinserien auch kundenspezifisch angepasste Produktionsanlagen. Ein modulares Baukastensystem ermöglicht dabei Lösungen für fast jede Werkstückgröße. Blohm Jung ist Teil der United Grinding Group mit Niederlassungen in Indien, China, Russland und den USA. Die bei der MTU eingesetzten Anlagen verfügen über sechs Achsen und einen Dreh-schwenktisch mit Nullpunktspannsystem, eine Profilierstation mit diamantbestückten
Abrichtrollen für die Schleifkörper sowie einen Werkzeugwechsler für Schleifscheiben, Bohrer, Fräser und Messtaster. Die eingesetzte Bearbeitungssoftware wurde speziell von MTU entwickelt.
Montageroboter
Eine sehr diffizile Aufgabe übernehmen die in den einzelnen Zellen eingesetzten Montageroboter von AMT, einem Montageund Verschraubungsspezialisten mit umfassender Erfahrung unter anderem in der Automobilindustrie. Die Roboter müssen die einzelnen Schaufeln aus Gestellen entnehmen, mit äußerster Präzision in eine spezielle Vorrichtung einlegen und dann durch Verschrauben spannen. Anschließend wird die Vorrichtung samt eingespanntem Teil an das Schleifbearbeitungszentrum übergeben und dort mithilfe eines Nullpunktspannsystems fixiert.
Gerade diese Operation ist äußerst diffizil und erfordert sehr viel Knowhow sowohl bezüglich der Übergabe als auch der Sensitivität der Verschraubungsoperationen. Die Turbinenteile müssen dabei wie rohe Eier behandelt werden, weil selbst kleinste Schäden oder Kratzer an der Oberfläche unzulässig wären.
Fertigungssteuerung
Für die Fertigungssteuerung kommt ein Leitsystem von Soflex zum Einsatz. Dieses System digitalisiert, vernetzt und organisiert Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte miteinander und optimiert hierbei die Wertschöpfungskette bis hin zur vollautomatisierten Werkstückund Betriebsmittelbereitstellung. Die Software plant und organisiert die Auftragsabwicklung, steuert den Werkstück-durchlauf als auch die Bereitstellung von Werkzeugen, Nc-daten sowie Vorrichtungen, und übermittelt die benötigten Fertigungsinformationen an die Bearbeitungsmaschinen oder an den manuellen Arbeitsplatz.
Zugleich fungiert das System als Bindeglied zwischen der Fertigung und den übergeordneten Managementebenen, indem es den automatisierten Informationsaustausch mit den anderen It-strukturen der Unternehmensplanung wie ERP-, CAD/CAM- und Pdmsysteme übernimmt.
Enge Partnerschaft beim Engineering
Liebherr-gebietsverkaufsleiter Michael Appel ergänzt: „Die eigentliche Herausforderung bestand für uns darin, unsere modularen Automatisierungskomponenten so auszuwählen und mit den übrigen Systemen zu verknüpfen, dass ein reibungsloses Zusammenspiel zustande kommt.“Zudem übernahm Liebherr auch die Verantwortung für die Cezertifizierung der kompletten Anlage.
Die Zusammenarbeit im Engineeringteam wurde von MTU koordiniert. Im Team arbeiteten die Partnerunternehmen auf Augenhöhe zusammen, tauschten Ideen aus und entwickelten im Dialog die entscheidenden Merkmale des Systems. Das umfasste auch eine Hilfsfunktion für den Bediener, bei der ein Laserpointer auf die Stelle zeigt, wo das nächste einzusortierende Teil hingehört.
Das Ramp-up der Gesamtanlage ist erfolgreich angelaufen. Mit der neuen Anlage sehe sich MTU für die Anforderungen der Zukunft bestens gerüstet, wie Marc Weiß, Leiter Flexible Fertigungssysteme, schließt.
Thomas Weber ist Marketingleiter bei Liebherr Verzahntechnik.