In die Produktion
Verlängerter digitaler Arm
Wer denkt, dass BDE und MES ihre Potenziale bereits voll ausgeschöpft haben, der irrt. Im Zeitalter der „Amazonification“muss an allen Stellschrauben in der Produktion gedreht werden, um weiterhin im Rennen zu bleiben. Marcus Niebecker vom Mes-anbieter Proxia Software erklärt im Interview, was (schlechte) Gewohnheiten auf dem Shopfloor sind und wo es noch ungenutzte Potentiale bei MES gibt.
„DIE IM DUNKELN, die sieht man nicht“: Die Betriebsdatenerfassung (BDE) wird gerne als verlängerter Arm in die Produktion des Enterprise Ressource Planning interpretiert, beispielsweise um Zeiten für die Nachkalkulation zu erfassen. Doch bietet diese Sichtweise wenig Potenzial, sich in der Produktion signifikant zu verbessern. Denn sie gaukelt dem Hersteller eine heile Welt mit Zeiten vor, die dem Kunden in Rechnung gestellt werden können. Hierbei bleiben jedoch Schiefstände und Unproduktivität verborgen.
Digital Manufacturing (DM): Herr Niebecker, alle Welt redet von Digitalisierung im Sinne von Big Data & Co., Proxia indes nimmt sich die scheinbar kleinen detaillierten Dinge wie BDE vor. Ist da wirklich noch etwas herauszuholen?
Marcus Niebecker: Und ob! Proxia als Mes-anbieter verfolgt bei der Bdeanbindung einen ganz anderen Ansatz als beispielsweise die meisten Erp-anbieter. Für uns sind die unproduktiven Zeitabschnitte einer Maschine viel interessanter als die Produktiven. Zum Beispiel, um herauszufinden, was noch zu einer 100-Prozent-maschinenverfügbarkeit beiträgt. Das sind Informationen, die normalerweise kein Erp-system haben will.
Unser Ansatz in der Betriebsdatenerfassung beinhaltet, Möglichkeiten zu schaffen, den gesamten Prozess akribisch zu dokumentieren. Zugegebenermaßen ist die Hauptanforderung bei den Kunden zunächst nicht sonderlich groß, derart systemisch an die Sache heranzugehen. Es ist eher so ein schwer erklärbares, mulmiges Gefühl, dass etwas getan werden muss, und dann kommen wir ins Spiel. Unseren Kunden fällt es oftmals schwer, ihren Bedarf und ihre Anforderungen präzise zu formulieren.
DM: „Ganzheitlich“ist ja auch ein großes Wort. Wie machen Sie das in Ihren Empfehlungen und Lösungen für den Kunden greifbar?
Niebecker: Nehmen wir den konventionellen Refa-prozess: Da stellt sich einer mit der Stoppuhr neben die Maschine und vergleicht die gemessenen Zeiten mit den Sollwerten. Werden signifikante Abweichungen festgestellt, wird ein Verbesserungsprozess eingeleitet. Alles schön und gut, allerdings bezieht sich dieser nur auf die konkrete Situation an eben jenen Maschinen, bei denen Abweichungen festgestellt wurden. Eine Gesamtsicht auf die Fabrik ist so nicht möglich, weil kein digitales Abbild davon vorhanden ist.
DM: Sie nehmen also die Einzeloptimierung von Arbeitsplätzen in den Fokus?
Niebecker: In gewisser Hinsicht schon, weil die Optimierung in einem Mikrokosmos nicht unbedingt gut ist für das eigene Universum, sprich: die Fabrik. Wir erleben dies zum Beispiel bei einer gut gemeinten Rüstoptimierung. Der Planer erstellt einen Plan mit dezidierten Reihenfolgen von Maßnahmen. Der Plan hat beispielsweise zum Ziel, dass das Material pünktlich an die verlängerte Werkbank, nehmen wir an, eine Härterei, ausgeliefert werden kann. Als Antagonist tritt der Meister beziehungsweise Werker
Die Abläufe in der Produktion werden immer komplexer, gleichzeitig werden Fertigungsunternehmen kundenseitig mit dem Trend „Amazonification“konfrontiert, was heißt: Immer kleinere Losgrößen bei größerer Variantenvielfalt, sich verkürzende Lieferzeiten und fallende Preise.“
MARCUS NIEBECKER, PRODUKT-MANAGER, PROXIA SOFTWARE AG
an der Maschine auf, der aufgrund seiner Erfahrungen eigene Vorstellungen von der Reihenfolge von Abläufen hat.
Sie sagen sich: „Lass die in der Arbeitsvorbereitung mal planen, was sie wollen – was wirklich effizient ist, wissen wir.“Gut, vielleicht ist die Maschine aufgrund dieser Partisanentaktik an diesem Tag eine halbe Stunde länger in Produktivzeit. Aber am Ende des Auftrags kann es sein, dass ein ganzer Übersee-container nicht versendet werden kann, weil ein Artikel fehlt.
DM: Was bedeutet dies nun für die Betriebsdatenerfassung nach den Vorstellungen von Proxia?
Niebecker: Wir machen uns für die digitale Reife des Personals stark. Die Werker erkennen sehr schnell den Nutzen von BDE, wenn es ihnen wie ein Navigationssystem hilft, schneller und komfortabler ans Ziel zu kommen. Die Werksleitung hat den Nutzen ohnehin längst erkannt. Und die unteren Führungsebenen, etwa Schichtleiter oder Meister, die der Einführung eines MES mit Maschinen- und Betriebsdatenerfassung oft mit Skepsis gegenüberstehen, müssen überzeugt werden.
DM: Und wie sieht Ihre Überzeugungsarbeit hier aus?
Niebecker: Viele Systeme bieten für den Mitarbeiter im Shopfloor keinen operativen Nutzen. Daher betrachten sie die IT als ein notwendiges Übel, nicht aber als wertvolle Unterstützung. Auf der anderen Seite ist MES zu einem Muss geworden. Die Abläufe in der Produktion werden immer komplexer, gleichzeitig werden Fertigungsunternehmen kundenseitig mit dem Trend der„amazonification“konfrontiert, was heißt: Immer kleinere Losgrößen bei größerer Variantenvielfalt, sich verkürzende Lieferzeiten und fallende Preise. Amazon steht doch für das Versprechen „Heute bestellt, heute oder spätestens morgen bis 9 Uhr geliefert, und das zum günstigsten Marktpreis“.
An die Anforderungen dieser Ära muss die Produktion getrimmt werden. Hierzu gehört unserer Ansicht nach, dass der Mitarbeiter befähigt wird, den Plan umsetzen zu können. Dazu muss der Mitarbeiter entsprechend seiner Rolle mit Echtzeit-informationen versorgt werden. Zum Beispiel, dass in diesem Augenblick mit dem Rüsten der Werkzeuge zu beginnen ist, weil in einer Stunde der Arbeitsgang
ansteht. Mithilfe unserer Betriebsdatenerfassung mit Messenger-diensten werden die Werker befähigt, sich operativ zu verbessern. Die Meister-ebene wiederrum profitiert von „Echtzeit-rückmeldungen und -Informationen“sowie einer komfortablen Übersicht des kompletten Fertigungsgeschehens – und das von seinem Schreibtisch aus oder sogar über sein Smartphone. Das führt zu mehr Transparenz, schnellerem Entgegensteuern bei Engpässen und quantitativen wie qualitativen Informationen auf Knopfdruck für Vorgesetzte.
DM: Wie positioniert sich Ihr BDE mit „Whatsapp“-funktionen im Vergleich zu MDE?
Niebecker: MDE, also die automatisierte Maschinendatenerfassung, liefert Kenntnis darüber, ob eine Maschine läuft oder aber gerade steht. MDE trifft aber in der Regel keine Aussagen darüber, warum eine Maschine nicht produktiv ist – zumindest bei vielen älteren Anlagen. Die Gründe dafür weiß der Werker an der Maschine. Aufgrund von Materialmangel oder einer Werkzeugstörung. Oder weil der Ladekran nicht verfügbar ist oder eine Meisterbesprechung stattfindet. Die Augen und Ohren der Werker als „Prozess-sensoren“werden von einem konventionellen MES nicht genutzt. Daher haben wir unser BDE mit Messenger-funktionalitäten ausgestattet, um Fehlzeiten zuordnen und bewerten zu können. Nehmen wir die Fehlzeit „Schulung neuer Mitarbeiter“als Beispiel: Es wäre doch gut, wenn diese Schulung am Programmierarbeitsplatz durchgeführt würde und die Maschine weiterlaufen könnte. Oder die„produktivitätstrichter“ rund um den Schichtwechsel, weil infolge der Übergabe der Gabelstapler eine halbe Stunde in der Halle nicht fährt. In all diesen Fällen können die Werker wertvolle Impulse geben.
DM: Dann bleibt folglich nur die Maschinenverfügbarkeit als zentraler Bestandteil der Optimierung übrig… Niebecker: Richtig! Mit unserer OEE/ Kvp-methode nehmen wir die Verfügbarkeit besonders ins Visier. Dazu gehört ein „Maßnahmen Manager“, mit dem sich im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) prozesssichere Ergebnisse validieren und verifizieren lassen. Wenn Sie so wollen, schafft der Maßnahmen Manager den digitalen Zwilling einer Maßnahme.
DM: Herr Niebecker, wir danken Ihnen für das Gespräch.