Traceability
Bauteilrückverfolgung mit Track & Trace Fingerprint
UM DIE MÖGLICHKEITEN von Industrie 4.0 konsequent zu nutzen, muss jedes noch so kleine Bauteil und Halbzeug mit einer individuellen, digitalen ID verknüpft werden. Nur so lässt sich jedes Teil zu jeder Zeit in der Wertschöpfungskette bis an den Anfang zurückverfolgen. Und nur so lassen sich Ursachen für eventuell wiederkehrende Produktionsfehler, die mithilfe von Inline-prüfsystemen erkannt wurden, nachhaltig beheben – und zwar weit über die eigene Produktion hinaus: Auch Zulieferer können mithilfe einer lückenlosen Bauteilrückverfolgung Fehlerquellen im eigenen Produktionsprozess identifizieren.
Automatisierte Fertigungsprozesse bei Brose Fahrzeugteile
Der Automobilzulieferer Brose produziert unter anderem Antriebsmodule für
Pkw-heckklappen. Die automatisierte Montagelinie wurde dafür 2019 aufgebaut. Die Antriebe durchlaufen einen automatisierten Fertigungsprozess, sodass eine Zuordnung der Varianten stets gewährleistet ist. Die Herausforderung im Prozess bestand darin, die Zuordnung der einzelnen Antriebe, bei der manuellen Übergabe an zwei Prüfstationen nicht zu verlieren und die Rückverfolgbarkeit der Teile sicherzustellen.
Herkömmliche Techniken zur Rückverfolgung, wie Laserbeschriftung oder Labels, sind technisch kritisch aufgrund von Haftungsproblemen oder Oberflächenveränderungen (Nachdunkeln der Oberfläche). Gleichzeitig sollten Wartezeiten durch aufwändige Programmierung oder Freigabe der Prüfstationen durch Schleusen vermieden werden. Hierfür eignet sich die Rückverfolgung mit dem vom Fraunhofer-institut für Physikalische Messtechnik IPM entwickelten Track & Trace Fingerprint-system. Die markierungsfreie Technik nutzt vorhandene Oberflächen-mikrostrukturen als Unterscheidungsmerkmal. Das Verfahren generiert auf Basis der individuellen Mikrostruktur eines Bauteils eine charakteristische Bit-folge – den Fingerprint-code. Eine zusätzliche Markierung ist überflüssig. Dadurch ist jedes Bauteil über seine gesamte Lebensdauer mit einer digitalen ID verknüpft – und zwar ohne extra markiert zu werden. Die individuelle Bauteiloberfläche genügt.
Durch den Einsatz dieser neuen Technik wird eine Zuweisung der einzelnen Varianten zu den Prüfstationen obsolet. Das System erkennt die Antriebe in der Prüfstation automatisch und gewährleistet sowohl die Rückverfolgbarkeit der Antriebe als auch die korrekte Zuweisung der Prüfparameter. Auch Antriebe, die wieder in den Fertigungsprozess eingeschleust werden, stellen kein Problem dar, da sie in dem System bereits als bekannt hinterlegt sind.
Durch die Identifizierung einzelner Bauteile und Halbzeuge können Produktionsdaten zu jeder Zeit auf individuelle Teile zurückgeführt werden. Wenn Markierungen zu aufwändig sind, kommen andere Lösungen wie die Rückverfolgung mit Track & Trace Fingerprint zum Zuge. Das Verfahren von Fraunhofer IPM nutzt vorhandene Oberflächen-mikrostrukturen als Unterscheidungsmerkmal und wurde in einer Pilotinstallation validiert.
Oberflächen von Bauteilen zeigen individuelle Merkmale
Wie funktioniert genau das von Fraunhofer IPM seit einigen Jahren erforschte markierungsfreie Verfahren? Bei genauer Betrachtung weisen nahezu alle technischen Oberflächen zufällige Merkmale wie Mikrostrukturen oder Farbtexturen auf, die das zugehörige Bauteil auf einzigartige Weise kennzeichnen. Track & Trace Fingerprint nimmt definierte Bereiche der Bauteiloberfläche in hoher Auflösung mit einem speziell entwickelten Lesegerät auf.
Aus der Bildaufnahme mit ihren spezifischen Strukturverläufen und deren Position zueinander wird der Fingerprintcode errechnet; dieser wird, gepaart mit einer individuellen ID, in einer Datenbank hinterlegt. Bei der späteren Identifizierung des Bauteils wird dieser Vorgang an derselben Bauteilposition wiederholt und der neu ermittelte Fingerprintcode mit allen bereits in der Datenbank hinterlegten Fingerprint-codes verglichen. Wird eine Übereinstimmung festgestellt, ist das gesuchte Bauteil identifiziert und die ID wird zurückgesendet. Das ermöglicht eine Zuordnung von zusätzlichen Informationen wie Mess- oder Herstellungsdaten zu einem bestimmten Bauteil. Track & Trace Fingerprint ist so ausgelegt, dass unterschiedliche Bauteilgrößen und -formen und eine große Bandbreite an Materialien im Produktionstakt erfasst werden können – von Kunststoffen über präzisionsbearbeitetes Aluminium und Eisenguss bis hin zu lackierten Oberflächen.
Die Hardware von Track & Trace Fingerprint besteht aus einem Reader zur optischen Bildaufnahme (links) und der Steuerungseinheit (rechts).
Markierungsfreie Rückverfolgung in der Montagelinie
Weder die Aufnahme der Oberflächenstruktur noch die Generierung des Fingerprint-codes dürfen die Produktion verzögern. Track & Trace Fingerprint nutzt daher ein schnelles kamerabasiertes Sensorsystem als Lesegerät, das die Mikrostruktur hochaufgelöst mit einem Cmos-bildsensor aufzeichnet und daraus nach einem speziellen Algorithmus den Fingerprint-code des jeweiligen Bauteiles erzeugt. Die Reduzierung der Bilddaten auf eine simple Bit-folge mit geringem Speicherbedarf ermöglicht einen Datenbankabgleich im Produktionstakt
und macht Track & Trace Fingerprint zu einem Inline-fähigen System. Toleranzen in der Positionierung der Bauteile werden softwareseitig anhand geeigneter geometrischer Bezugspunkte berücksichtigt, da die Lage des Fingerprints auf dem Bauteil nicht direkt erkennbar ist.
Die Erfassung der Bilddaten erfordert typischerweise eine Positionierung auf ein Millimeter genau, eine Verdrehung bis maximal fünf Grad und Verkippungen bis vier Grad sind dabei tolerierbar. Konkret wurden bei Brose drei Lesesysteme in die Montagelinie integriert – eines in der Entnahmestation und je ein weiteres in den beiden Prüfstationen. Die Ansteuerungssoftware der Lesesysteme und die Management-software zur Verwaltung der Fingerprint-codes laufen auf einem
Industrie-pc, der über eine Tcp/ip-verbindung mit der Anlagensteuerung (SPS) verbunden ist.
Identifizierung der Bauteile ohne Zeitverlust
Durch die Nutzung der vorhandenen individuellen Oberflächenstruktur entstehen beim markierungsfreien Track & Trace Fingerprint keine stückzahlabhängigen Kosten. Denn das System nutzt die ohnehin vorhandene Bauteiloberfläche. Im hier beschriebenen Beispiel werden 99 Prozent der Antriebe zweifelsfrei erkannt. Die Fingerprint-code-erzeugung dauert in der Linie nur rund 500 Millisekunden, die gesamte Bauteilidentifikation einschließlich Fingerprint-code-erzeugung erfolgt in unter einer Sekunde.
Die Erkennung der Oberflächenstruktur ist sehr robust ausgelegt. Eventuelle Störeinflüsse durch Fremdlicht werden durch sehr kurze Belichtungszeiten von rund 200 µs vermieden. Mögliche Störeinflüsse wie Schmutz oder Kratzer auf der Bauteiloberfläche werden mithilfe von redundantem Informationsübertrag zuverlässig ausgeschlossen. Das Verfahren ist somit bis zu einem gewissen Grad intrinsisch robust gegenüber Veränderungen der Oberfläche. Das hat den Vorteil, dass Bauteile auch noch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder identifiziert werden können, wodurch eine nachträgliche Zuordnung der in der Fertigung gemessenen Parameter zu bestimmten Bauteilen möglich ist. Dies vereinfacht insbesondere das im Bereich Automotive so wichtige Thema Rückrufe.
Dipl.-ing. (FH) Norbert Saum M.SC. ist Projektleiter Inline Vision Systeme,
Dr. Tobias Schmid-schirling ist Gruppenleiter Inline Vision Systeme, beide am Fraunhoferinstitut für Physikalische Messtechnik IPM.