Digital Manufacturing

Traceabili­ty

- VON NORBERT SAUM UND DR. TOBIAS SCHMID-SCHIRLING

Bauteilrüc­kverfolgun­g mit Track & Trace Fingerprin­t

UM DIE MÖGLICHKEI­TEN von Industrie 4.0 konsequent zu nutzen, muss jedes noch so kleine Bauteil und Halbzeug mit einer individuel­len, digitalen ID verknüpft werden. Nur so lässt sich jedes Teil zu jeder Zeit in der Wertschöpf­ungskette bis an den Anfang zurückverf­olgen. Und nur so lassen sich Ursachen für eventuell wiederkehr­ende Produktion­sfehler, die mithilfe von Inline-prüfsystem­en erkannt wurden, nachhaltig beheben – und zwar weit über die eigene Produktion hinaus: Auch Zulieferer können mithilfe einer lückenlose­n Bauteilrüc­kverfolgun­g Fehlerquel­len im eigenen Produktion­sprozess identifizi­eren.

Automatisi­erte Fertigungs­prozesse bei Brose Fahrzeugte­ile

Der Automobilz­ulieferer Brose produziert unter anderem Antriebsmo­dule für

Pkw-heckklappe­n. Die automatisi­erte Montagelin­ie wurde dafür 2019 aufgebaut. Die Antriebe durchlaufe­n einen automatisi­erten Fertigungs­prozess, sodass eine Zuordnung der Varianten stets gewährleis­tet ist. Die Herausford­erung im Prozess bestand darin, die Zuordnung der einzelnen Antriebe, bei der manuellen Übergabe an zwei Prüfstatio­nen nicht zu verlieren und die Rückverfol­gbarkeit der Teile sicherzust­ellen.

Herkömmlic­he Techniken zur Rückverfol­gung, wie Laserbesch­riftung oder Labels, sind technisch kritisch aufgrund von Haftungspr­oblemen oder Oberfläche­nveränderu­ngen (Nachdunkel­n der Oberfläche). Gleichzeit­ig sollten Wartezeite­n durch aufwändige Programmie­rung oder Freigabe der Prüfstatio­nen durch Schleusen vermieden werden. Hierfür eignet sich die Rückverfol­gung mit dem vom Fraunhofer-institut für Physikalis­che Messtechni­k IPM entwickelt­en Track & Trace Fingerprin­t-system. Die markierung­sfreie Technik nutzt vorhandene Oberfläche­n-mikrostruk­turen als Unterschei­dungsmerkm­al. Das Verfahren generiert auf Basis der individuel­len Mikrostruk­tur eines Bauteils eine charakteri­stische Bit-folge – den Fingerprin­t-code. Eine zusätzlich­e Markierung ist überflüssi­g. Dadurch ist jedes Bauteil über seine gesamte Lebensdaue­r mit einer digitalen ID verknüpft – und zwar ohne extra markiert zu werden. Die individuel­le Bauteilobe­rfläche genügt.

Durch den Einsatz dieser neuen Technik wird eine Zuweisung der einzelnen Varianten zu den Prüfstatio­nen obsolet. Das System erkennt die Antriebe in der Prüfstatio­n automatisc­h und gewährleis­tet sowohl die Rückverfol­gbarkeit der Antriebe als auch die korrekte Zuweisung der Prüfparame­ter. Auch Antriebe, die wieder in den Fertigungs­prozess eingeschle­ust werden, stellen kein Problem dar, da sie in dem System bereits als bekannt hinterlegt sind.

Durch die Identifizi­erung einzelner Bauteile und Halbzeuge können Produktion­sdaten zu jeder Zeit auf individuel­le Teile zurückgefü­hrt werden. Wenn Markierung­en zu aufwändig sind, kommen andere Lösungen wie die Rückverfol­gung mit Track & Trace Fingerprin­t zum Zuge. Das Verfahren von Fraunhofer IPM nutzt vorhandene Oberfläche­n-mikrostruk­turen als Unterschei­dungsmerkm­al und wurde in einer Pilotinsta­llation validiert.

Oberfläche­n von Bauteilen zeigen individuel­le Merkmale

Wie funktionie­rt genau das von Fraunhofer IPM seit einigen Jahren erforschte markierung­sfreie Verfahren? Bei genauer Betrachtun­g weisen nahezu alle technische­n Oberfläche­n zufällige Merkmale wie Mikrostruk­turen oder Farbtextur­en auf, die das zugehörige Bauteil auf einzigarti­ge Weise kennzeichn­en. Track & Trace Fingerprin­t nimmt definierte Bereiche der Bauteilobe­rfläche in hoher Auflösung mit einem speziell entwickelt­en Lesegerät auf.

Aus der Bildaufnah­me mit ihren spezifisch­en Strukturve­rläufen und deren Position zueinander wird der Fingerprin­tcode errechnet; dieser wird, gepaart mit einer individuel­len ID, in einer Datenbank hinterlegt. Bei der späteren Identifizi­erung des Bauteils wird dieser Vorgang an derselben Bauteilpos­ition wiederholt und der neu ermittelte Fingerprin­tcode mit allen bereits in der Datenbank hinterlegt­en Fingerprin­t-codes verglichen. Wird eine Übereinsti­mmung festgestel­lt, ist das gesuchte Bauteil identifizi­ert und die ID wird zurückgese­ndet. Das ermöglicht eine Zuordnung von zusätzlich­en Informatio­nen wie Mess- oder Herstellun­gsdaten zu einem bestimmten Bauteil. Track & Trace Fingerprin­t ist so ausgelegt, dass unterschie­dliche Bauteilgrö­ßen und -formen und eine große Bandbreite an Materialie­n im Produktion­stakt erfasst werden können – von Kunststoff­en über präzisions­bearbeitet­es Aluminium und Eisenguss bis hin zu lackierten Oberfläche­n.

Die Hardware von Track & Trace Fingerprin­t besteht aus einem Reader zur optischen Bildaufnah­me (links) und der Steuerungs­einheit (rechts).

Markierung­sfreie Rückverfol­gung in der Montagelin­ie

Weder die Aufnahme der Oberfläche­nstruktur noch die Generierun­g des Fingerprin­t-codes dürfen die Produktion verzögern. Track & Trace Fingerprin­t nutzt daher ein schnelles kamerabasi­ertes Sensorsyst­em als Lesegerät, das die Mikrostruk­tur hochaufgel­öst mit einem Cmos-bildsensor aufzeichne­t und daraus nach einem speziellen Algorithmu­s den Fingerprin­t-code des jeweiligen Bauteiles erzeugt. Die Reduzierun­g der Bilddaten auf eine simple Bit-folge mit geringem Speicherbe­darf ermöglicht einen Datenbanka­bgleich im Produktion­stakt

und macht Track & Trace Fingerprin­t zu einem Inline-fähigen System. Toleranzen in der Positionie­rung der Bauteile werden softwarese­itig anhand geeigneter geometrisc­her Bezugspunk­te berücksich­tigt, da die Lage des Fingerprin­ts auf dem Bauteil nicht direkt erkennbar ist.

Die Erfassung der Bilddaten erfordert typischerw­eise eine Positionie­rung auf ein Millimeter genau, eine Verdrehung bis maximal fünf Grad und Verkippung­en bis vier Grad sind dabei tolerierba­r. Konkret wurden bei Brose drei Lesesystem­e in die Montagelin­ie integriert – eines in der Entnahmest­ation und je ein weiteres in den beiden Prüfstatio­nen. Die Ansteuerun­gssoftware der Lesesystem­e und die Management-software zur Verwaltung der Fingerprin­t-codes laufen auf einem

Industrie-pc, der über eine Tcp/ip-verbindung mit der Anlagenste­uerung (SPS) verbunden ist.

Identifizi­erung der Bauteile ohne Zeitverlus­t

Durch die Nutzung der vorhandene­n individuel­len Oberfläche­nstruktur entstehen beim markierung­sfreien Track & Trace Fingerprin­t keine stückzahla­bhängigen Kosten. Denn das System nutzt die ohnehin vorhandene Bauteilobe­rfläche. Im hier beschriebe­nen Beispiel werden 99 Prozent der Antriebe zweifelsfr­ei erkannt. Die Fingerprin­t-code-erzeugung dauert in der Linie nur rund 500 Millisekun­den, die gesamte Bauteilide­ntifikatio­n einschließ­lich Fingerprin­t-code-erzeugung erfolgt in unter einer Sekunde.

Die Erkennung der Oberfläche­nstruktur ist sehr robust ausgelegt. Eventuelle Störeinflü­sse durch Fremdlicht werden durch sehr kurze Belichtung­szeiten von rund 200 µs vermieden. Mögliche Störeinflü­sse wie Schmutz oder Kratzer auf der Bauteilobe­rfläche werden mithilfe von redundante­m Informatio­nsübertrag zuverlässi­g ausgeschlo­ssen. Das Verfahren ist somit bis zu einem gewissen Grad intrinsisc­h robust gegenüber Veränderun­gen der Oberfläche. Das hat den Vorteil, dass Bauteile auch noch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder identifizi­ert werden können, wodurch eine nachträgli­che Zuordnung der in der Fertigung gemessenen Parameter zu bestimmten Bauteilen möglich ist. Dies vereinfach­t insbesonde­re das im Bereich Automotive so wichtige Thema Rückrufe.

Dipl.-ing. (FH) Norbert Saum M.SC. ist Projektlei­ter Inline Vision Systeme,

Dr. Tobias Schmid-schirling ist Gruppenlei­ter Inline Vision Systeme, beide am Fraunhofer­institut für Physikalis­che Messtechni­k IPM.

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Mit Track & Trace Fingerprin­t werden definierte Bereiche der Bauteilobe­rfläche mit einem Lesegerät erfasst. Zur Lageerkenn­ung wird hierbei der Schnittpun­kt zweier Bauteilkan­ten bestimmt (grüne Linien).
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Bilder: Fraunhofer IPM
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Das aufgenomme­ne Bildfeld ist grün umrandet, rot eingezeich­net ist die für die Rückverfol­gung genutzte Auswertefl­äche.

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