Werkzeuge
Weniger ist mehr
Hoher Schnittdruck und Abdrängung sind die größten Herausforderungen beim Gewindefräsen. Die Entwicklungsingenieure von Walter lösen dieses Problem mit einer innovativen Fräsergeometrie. Im schwäbischen Wertach ist das außergewöhnliche Werkzeug bereits erfolgreich im Einsatz.
HIER, in ländlicher Idylle vor gewaltigem Alpenpanorama, produziert die Alois Berger Gmbh & Co. Präzisions-maschinenbauteile KG technisch anspruchsvolle Präzisionsmaschinenbauteile und Kugelgewindegetriebe für weltweit führende Maschinenbauer. Um die hohen Anforderungen an die Qualität der Bauteile wirtschaftlich darzustellen, spielen Zerspanungswerkzeuge, die Qualität und Prozesssicherheit gewährleisten, eine zentrale Rolle in der Fertigung. Deswegen arbeitet Berger seit Jahren eng mit dem Zerspanungswerkzeug-spezialisten Walter aus Tübingen zusammen. Für ein in Sachen Prozesssicherheit besonders herausforderndes Projekt sprach Florian Zobel, bei Berger als Meister verantwortlich für die Produktlinie Großteile, mit Michael Dreher, Technischer Berater bei Walter. Der Lösungsansatz, den der Experte für das komplexe Gewindefräs-projekt vorschlug, hat Zobel zuerst überrascht – und dann überzeugt: Mit dem neuen Gewindefräser TC620 von
Walter lassen sich die geforderten Gewinde nicht nur deutlich schneller fertigen als mit den von anderen Anbietern empfohlenen Werkzeugen. Der Prozess ist trotz der hohen Belastungen auf dem Werkzeug zudem extrem stabil bei sehr hoher Werkzeugstandzeit.
Großes Bauteil mit kleinen Gewinden
Mit Durchmessern zwischen 1,50 und 2,40 Metern sind die Ringe aus C45-stahl, die bei Berger im Auftrag eines großen Maschinenbauers bearbeitet werden, schon allein aufgrund ihrer Dimensionen eine Herausforderung. Geht bei der Bearbeitung etwas schief, wird die Nachbearbeitung aufwendig und teuer. Und das Risiko eines Werkzeugbruchs ist gerade bei diesem Projekt sehr hoch: In ein Bauteil müssen jeweils bis zu 269 Gewinde (M10 oder M8) eingebracht werden. Prozesssicherheit ist deswegen für Zobel das Wichtigste bei der Auswahl der optimalen Zerspanungsstrategie: „Einen abgebrochenen
Gewindebohrer müssten wir aus dem Bauteil herauserodieren. Das heißt: Dieses Riesending muss runter von der Maschine, raus aus der Halle und zum innerbetrieblichen Dienstleister. Ein Aufwand, den wir unbedingt vermeiden wollen.“
Begrenzender Faktor Maschine
Auch wenn Prozesssicherheit oberste Priorität hat: Für die Wirtschaftlichkeit des Prozesses spielen Bearbeitungszeit und Werkzeugstandzeit die ausschlaggebende Rolle. Die Herausforderung für das Team um Florian Zobel und Michael Dreher lag darin, hier das Beste aus der Bearbeitungsmaschine herauszuholen. Für das anfangs geplante Bearbeitungsverfahren, das klassische Bohren der Gewinde, fehlt der bei Berger eingesetzten Maschine die notwendige Dynamik, um auf den Wechsel von Abbremsen und Beschleunigen bei kurzen Gewinden zu reagieren. Florian Zobel, Nc-programmierer Jürgen Swoboda und Zerspanungsmechaniker Tobias Gschwend entschieden sich für das Gewindefräsen als prozesssichere Alternative. Das Berger Team testete Gewindefräser von vielen namhaften Herstellern, aber wirklich überzeugen konnte keiner: Vor allem die Standmengen schwankten erheblich, mit entsprechenden Auswirkungen auf Bearbeitungszeit und Qualität der Gewinde.
Innovative Fräsergeometrie
Als Alternative zu den bisher getesteten Zerspanungsverfahren schlugen Michael Dreher von Walter und sein Kollege, der Anwendungstechniker Marco Herdlitschka, vor, den bis dahin ausschließlich im Testbetrieb gelaufenen Gewindefräser TC620 auszuprobieren. Mit diesem Vollhartmetallfräser haben die Walter Entwicklungsingenieure das grundlegende Problem des Gewindefräsens auf überraschende Art gelöst. Die Zähnezahl wurde reduziert und in einem mehrreihigen Design optimiert.
Der beschränkende Faktor beim Gewindefräsen ist fast immer der Schnittdruck und damit die Abdrängung des Fräsers aus der gewünschten Bahn. Das wirkt sich negativ auf die Standzeiten und auf die Bearbeitungszeit aus. Üblicherweise versucht man, durch mehr Zähne, ungleiche Drallwinkel und Veränderung der Beschichtung diese beiden Parameter zu verbessern. Mit der neuen, mehrreihigen Fräsergeometrie reduziert Walter die Zahl der Zähne deutlich – und damit auch den Schnittdruck. Der Effekt: Mit dem TC620 kann man einen deutlich höheren Vorschub pro Zahn fahren als mit konventionellen Lösungen.
Ein Fräsvorgang reicht
Nach dem ersten Testlauf waren Zobel und sein Team begeistert: „Das Werkzeug sieht nicht aus wie die Fräser, die man so kennt. Wir haben mit niedrigen Schnittdaten angefangen, der Walter TC620 Supreme war trotzdem schneller als alles, was wir vorher versucht hatten. Und die Standzeiten waren genauso herausragend.“Nach einigen Testläufen mit individuell an die Anforderungen bei Berger angepasster Fräsgeometrie stand dann die optimale Frässtrategie. Insgesamt hat man von den ersten Gesprächen bis zum fertigen Prozess ungefähr zwölf Wochen gebraucht. Ein zentraler Faktor für den Erfolg des Projektes in so kurzer Zeit war die enge Zusammenarbeit von Berger und Walter während der Testphase. Der Walter Anwendungstechniker Marco Herdlitschka hat jeden Testlauf vor Ort begleitet und für die Walter Entwickler detailliert dokumentiert.
Mit dem Walter TC620 Supreme ist Werkzeugbruch kein Thema mehr. Der Gewindefräser mit der innovativen Geometrie bringt aber noch weitere Vorteile: Nach dem Vorbohren wird das Gewinde in einem Gang von unten herauf gefräst. Die typische Aufteilung des Fräsvorgangs in zwei oder mehr Phasen entfällt. Dank der geringen Schnittkräfte wird der Verschleiß des Werkzeugs deutlich reduziert. Die axiale Innenkühlung führt in Kombination mit den gedrallten Spannuten außerdem zu einer sicheren Spanabfuhr. Die Maßhaltigkeit des Gewindes bleibt so über die komplette Standzeit erhalten: Radiuskorrekturen sind selten notwendig. Daraus ergibt sich gerade bei der hohen Zahl an Gewinden pro Bauteil wie bei Berger eine besondere Sicherheit, was die Qualität über das gesamte Bauteil hinweg betrifft.
Das Werkzeug sieht nicht aus wie die Fräser, die man so kennt.“
FLORIAN ZOBEL, PRODUKTLINIE GROSSTEILE
Praxistest erfolgreich bestanden
Der Walter TC620 Supreme hatte bereits ausführliche Labortests bestanden: Mit der Anfrage von Michael Dreher erhielt das Team die Gelegenheit für den Praxistest. Ihre Gewissheit, dass der neue Vollhartmetall-gewindefräser die Lösung nicht nur für den schwierigen Anwendungsfall in Wertach sein würde, bezogen die Walter Entwickler vor allem aus dem Erfolg des Wendeschneidplattengewindefräsers T2711. Hier hatte Walter das Prinzip der reduzierten, mehrreihig angeordneten Zahngeometrie bereits für Gewinde mit großen Durchmessern entwickelt.
Siegfried Schaal ist Technischer Redakteur bei Walter.