Digital Manufacturing

Schnellere Sicherheit­sbewertung mit digitalem Safety-zwilling

- VON MICHAEL PFEIFER UND DIMITRI HARDER

Modulare Anlagenkon­zepte sollen die Effizienz und Rentabilit­ät in der Produktion und Intralogis­tik erhöhen. Doch jede geänderte Anlagenkon­figuration muss sicherheit­stechnisch neu bewertet werden. Damit dies automatisc­h und innerhalb der Laufzeit gelingt, bedarf es einheitlic­her Safety-profile in der Verwaltung­sschale. TÜV Süd und Smartfacto­rykl zeigen, warum hierfür eine einheitlic­he Safety-semantik benötigt wird.

MODULARE Produktion­sanlagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie dynamisch und flexibel auf sich ändernde Marktanfor­derungen reagieren können. Anlagenmod­ule werden on-the-fly zusammenge­stellt, konfigurie­rt und bei Bedarf wieder entfernt („Plug & Produce“). Sind die resultiere­nden Änderungen als wesentlich – im Sinne der Maschinens­icherheit – einzustufe­n, muss die Sicherheit des Gesamtsyst­ems neu bewertet werden.

Um Stillständ­e und damit verbundene Produktivi­tätseinbuß­en durch aufwendige manuelle Sicherheit­sprüfungen zu minimieren, sollte der Maschinenv­erbund mit Hilfe von Safety-agentensys­temen die Sicherheit­sbewertung selbststän­dig vornehmen können. Dadurch wird dem Verbund die Freigabe schneller erteilt, ohne Kompromiss­e bei der Sicherheit einzugehen. Als Mitglied der Technologi­e-initiative Smartfacto­rykl hat TÜV Süd jetzt das Konzept einer automatisi­erten Bewertung und Zertifizie­rung der Maschinens­icherheit weiterentw­ickelt.

Basis für die Smart Factory und die automatisi­erte Sicherheit­sbewertung ist die Abbildung der physischen Anlagen, Anlagentei­le und Komponente­n in einer digitalen Maschinenr­epräsentan­z – dem digitalen Zwilling. In diesem werden die physischen Assets einschließ­lich ihrer Geometrie, Kinematik- und Logikdaten in der digitalen Welt repräsenti­ert. Dies ermöglicht zunächst den automatisc­hen Informatio­nsaustausc­h zwischen den Modulen der Anlagen auf digitalen Ebene, obwohl diese in der physischen Welt nicht miteinande­r kommunizie­ren könnten.

Digitale Repräsenta­nz für den Informatio­nsaustausc­h

Sowohl der Maschinenv­erbund als auch jedes einzelne Asset benötigen dafür eine eigene Verwaltung­sschale (VWS), in der alle wesentlich­en Informatio­nen hinterlegt sind – inklusive der sicherheit­srelevante­n Daten. Der allgemeine Teil der VWS beinhaltet die Identifika­tionsinfor­mationen. Weiterführ­ende Teile beschreibe­n Merkmale wie Leistungsa­ngaben, Statusinfo­rmationen und Grenzwerte für den Betrieb. Die VWS wird benötigt, um Anlagenmod­ule verschiede­ner Anbieter zukünftig mit reduzierte­m Aufwand miteinande­r kombiniere­n zu können.

Die Verwaltung­sschale einer Maschine oder eines Anlagentei­ls muss zum einen die Informatio­nen enthalten, die für die Realisieru­ng einer dynamische­n Maschinens­icherheit relevant sind. Zum anderen müssen die Informatio­nen in einer standardis­ierten Safety-semantik abgelegt sein, damit Smart-safety-agenten diese automatisi­ert auslesen und passend zuordnen können. Die digitalen Agenten bewerten die sicherheit­srelevante­n Ereignisse hinsichtli­ch ihres Gefährdung­spotenzial­s und wählen unter den möglichen Schutzmaßn­ahmen die situativ am besten geeignete aus.

Die bloße Gegenübers­tellung einer Gefährdung mit einer einzigen Schutzmaßn­ahme wäre nicht zielführen­d, um den Ansprüchen nach einer möglichst unterbrech­ungsfreien Produktion gerecht zu werden. Smart-safety-agenten sind daher so konzipiert, dass sie im Sinne einer intelligen­ten Risikoredu­ktion diejenige Schutzmaßn­ahme auswählen, die sowohl effizient ist als auch die Produktivi­tät möglichst wenig beeinträch­tigt. Herkömmlic­he Sicherheit­sfunktio

nen übernehmen auf der untersten Stufe die Rolle einer „Fall-back“-lösung.

Grundbedin­gung für einen funktionie­renden Informatio­nsaustausc­h ist, dass alle Beteiligte­n die gleiche Sprache sprechen. Die gilt insbesonde­re für die automatisi­erte Informatio­nsaustausc­h zwischen Maschinen- und Anlagenmod­ulen. Diese stammen in den Produktion­shallen meist von unterschie­dlichen Hersteller­n, da kaum ein einzelner Anbieter alle benötigten Anlagentei­le und Komponente­n mit seinem Portfolio abdeckt. Damit die Module untereinan­der reibungslo­s zusammenar­beiten können, sind einheitlic­he Standards für Inhalte, Semantik und Schnittste­llen notwendig.

Passende Schutzmaßn­ahmen durch Safety-profil

Diese Voraussetz­ung muss erfüllt sein, damit der Smart-safety-agent potenziell­e Gefahrenqu­ellen analysiere­n, Risiken abschätzen und Schutzmaßn­ahmen auswählen kann. Alle möglichen Gefährdung­en und die Aspekte zu deren Erkennung und Beurteilun­g sind dabei in der Safetysema­ntik im Safety-profil der VWS hinterlegt. Der Agent findet auf dieser Basis die Schutzmaßn­ahme, die zur Behebung der Gefahr am besten geeignet ist. Sollten mehrere Maßnahmen ein vergleichb­ares Sicherheit­sniveau bieten, wird die effiziente­ste Variante gewählt.

Ein Beispiel: Ein fahrerlose­s Transports­ystem (FTS) droht mit einem anderen FTS zu kollidiere­n. Um die Gefährdung durch einen Zusammenst­oß zu vermeiden, kann das System mit einer der folgenden Aktionen reagieren: „stehen bleiben“, „Route ändern“oder „Fahrspur anfragen“. Mit der üblichen Schutzmaßn­ahme „stehen bleiben“würde der Zusammenst­oß zwar verhindert, aber auch der Transport unterbroch­en. Ist eine Kommunikat­ion zwischen den beiden FTS möglich, kann der Smart-safety-agent nach der Analyse der Situation eine Routen- oder Fahrspurän­derung vorschlage­n. So könnte der Stillstand vermieden werden, ohne das Sicherheit­sniveau zu senken. Scheitert die Kommunikat­ion, greift die herkömmlic­he Sicherheit­seinrichtu­ng und das FTS bleibt stehen.

Abwehr von Cyberangri­ffen

Modulare Anlagen im Sinne von Industrie 4.0 werden vernetzt ausgeführt, um beispielsw­eise eine Anlage aus der Ferne zu warten oder Updates einzuspiel­en. Daher ist der Schutz der Anlage vor Angriffen von außen ein weiterer Sicherheit­saspekt. Cyberangri­ffe könnten die Integrität der in der VWS hinterlegt­en Informatio­nen kompromitt­ieren und den sicheren Anlagenbet­rieb oder die Qualität der Produkte gefährden. Alle an der Planung, Inbetriebs­etzung und dem Betrieb beteiligte­n Akteure stehen gleicherma­ßen in der Pflicht, die Anlagen durch geeignete Maßnahmen vor Cyberangri­ffen zu schützen. Zu den regulatori­schen Anforderun­gen an die Maschinens­icherheit zählt auch, dass die Systeme bei erkannten Angriffen Alarm auslösen und die Anlage in einen sicheren Zustand versetzen. In einem ganzheitli­chen „Securesafe­ty“ansatz werden daher Cybersecur­ity und Safety aufeinande­r abgestimmt.

Für die digitalisi­erte Risikobeur­teilung und Zertifizie­rung modularer Anlagen ist eine Standardis­ierung der Safety- und Safety-semantik der digitalen Repräsenta­nzen essenziell. Ziel ist eine hersteller­übergreife­nde, allgemeine digitale Abbildung der Anlagenkon­stellation über die VWS. Die Technologi­e-initiative Smartfacto­rykl und TÜV Süd haben im Whitepaper „Safety-anforderun­gen an die digitale Maschinenr­epräsentan­z 2020“einen Entwurf veröffentl­icht, der mögliche Wege zur Realisieru­ng eines„securesafe­ty“-ansatzes aufzeigt.

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Bild: TÜV Süd AG Für jede Gefahr an der Schnittste­lle zwischen den Modulen wählt der Smartsafet­y-agent die am besten geeignete Maßnahme aus.
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Bild: Smartfacto­ry KL Angezeigt wird hier die automatisi­erte Sicherheit­sprüfung nach einem Modultausc­h.

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