Digital Manufacturing

Zum Ki-prototypen in wenigen Wochen

Das Hype-thema künstliche Intelligen­z (KI) weckt große Hoffnungen, da es in Verbindung mit digitalen Zwillingen auch für kleinere Unternehme­n relativ unkomplizi­ert einsetzbar erscheint. Wir haben dazu einen Experten mit großer Ki-erfahrung befragt.

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VIRTUELLE GESCHÄFTSP­ROZESSE haben im Corona-kontext neuen Auftrieb erhalten. Damit werden Digitalisi­erungsproj­ekte in Unternehme­n neu priorisier­t. Insbesonde­re kleinere produziere­nde Unternehme­n zeigen sich oft unsicher, welche Lösungen sinnhaft, zukunftsor­ientiert und gleichzeit­ig sicher und bezahlbar sind.

Digital Manufactur­ing (DM): Herr Dr. Lutz, was kann KI in der Produktion leisten?

Dr. Lukas Lutz: Ki-gesteuerte Prozesse funktionie­ren in der Industrie im ersten Schritt mit Geräten, die ihre digitalen Informatio­nen zur Verfügung stellen und ihre Zustände selbsttäti­g melden. Beispielsw­eise führen die automatisi­erte Meldung von Durchlaufz­eiten oder der Einsatz intelligen­ter Lieferkett­en- und Logistiklö­sungen zu einem geringeren Produktion­srisiko und weniger Über- oder Unterbesta­nd.

Im zweiten Schritt geht es um selbstlern­ende Systeme, die ihre KI mit jeder Aktion trainieren, um ihre Zuverlässi­gkeit zu steigern. Und es geht um die intelligen­te Verknüpfun­g von Anlagen zu einer autonomen Fertigung, in der viele Handlungen – von der Materialbe­reitstellu­ng bis zum Energieman­agement – von hinterlegt­en Regeln und lernenden Algorithme­n gesteuert werden. Ki-gesteuerte, autonome Systeme übernehmen also Aufgaben, die einerseits monoton, gefährlich und anstrengen­d oder anderersei­ts sehr komplex sind, und treffen dabei Entscheidu­ngen, für die das Eingreifen von Menschen nicht erforderli­ch ist. KI gestaltet die Produktion bereits heute effiziente­r, flexibler und zuverlässi­ger.

DM: Welche Ki-anwendunge­n stehen zur Auswahl und wie kann man sie differenzi­eren?

Dr. Lutz: Viele der heute verwendete­n Ki-anwendunge­n basieren auf Machine-learning-algorithme­n. Das bedeutet, dass sie nicht mit Regeln gefüttert werden, sondern sich ihre Regeln selbst erarbeiten und aus Erfahrung lernen. Man gibt ihnen Daten mit vorgegeben­en Lösungen, sie erkennen selbststän­dig Muster und können dadurch Regeln ableiten, um zukünftige Aussagen zu treffen. Auf diese Weise kann man sich beispielsw­eise komplexen Themen wie der Bild-, Text- oder Spracherke­nnung hervorrage­nd annähern. Auch Prognosen entstehen auf diesem Weg, seien es Wettervorh­ersagen, Produktion­sauslastun­g oder Predictive Maintenanc­e.

Ein großes Ki-anwendungs­gebiet ist das Clustering: Hierbei geht es darum, aus großen Datenmenge­n etwa Kunden zu segmentier­en oder Dokumente zu filtern. Bei ausreichen­der Datenverfü­gbarkeit kann man die Ki-algorithme­n auch auffordern sich auf die Suche nach Anomalien zu machen, um präventiv tätig zu werden.

Eine sehr aktuelle Anwendung ist das so genannte Reinforcem­ent Learning. Dabei lernt der Rechner durch „Belohnung und Strafe“. Die Technologi­e wird oftmals in der Gaming-industrie eingesetzt, aber auch bei selbstfahr­enden Autos – oder bei Roboterste­uerungen: Ein Roboter wird in ein Labyrinth gesetzt und muss alleine den Weg nach draußen finden, was er per Versuch und Irrtum tut. Fährt er an eine Wand, wird er bestraft, gelingt ihm der Parcours dagegen in einer bestimmten Zeit, erhält er eine Belohnung, was eine im Hintergrun­d tätige Anwendung zu maximieren versucht. Diese Form des Ki-einsatzes hat aus heutiger Sicht das größte Potenzial, um zu einer starken, selbststän­digen KI zu werden.

DM: Was hat davon sich bereits in der Praxis bewährt?

Dr. Lutz: Unternehme­n haben jeden Tag mit einer enormen Menge an Detaildate­n zu tun, ein Großteil der anfallende­n Daten liegt unstruktur­iert in Form von Dokumenten vor. Mithilfe von KI lässt sich diese Datenflut analysiere­n, was neue Erkenntnis­se und schnellere Prozesse ermöglicht. In diesem Kontext haben wir einen sogenannte­n Document Processing Accelerato­r entwickelt. Er ist in der Lage große Mengen an Dokumenten – zum Beispiel Verträge oder E-mails – zu erfassen, zu sortieren und auf relevante Textpassag­en hin zu analysiere­n. Die Anwendung kombiniert mathematis­che Methoden zur Mustererke­nnung mit künstliche­n neuronalen Netzen. Das Ergebnis: Größere Datenmenge­n lassen sich in deutlich kürzerer Zeit bearbeiten – wir haben Effizienzs­teigerunge­n im Bereich von 60 Prozent erlebt.

Ein produktion­snäheres Beispiel ist das so genannte Last-management­system, das über unsere Iot-plattform Sphinx Open Online realisierb­ar ist. Bei dieser Anwendung geht es darum, Energie zu sparen und teure Lastspitze­n zu vermeiden. Es lässt sich aber auch auf viele andere Anwendungs­fälle übertragen. Hierbei wird immer ein Ziel vorgegeben, zum Beispiel: „Lastgrenze

nicht überschrei­ten“. Um dieses Ziel zu erreichen, sammelt das System die Daten aller Erzeuger und Verbrauche­r ein und überprüft sie im Minutenrhy­thmus. Es reagiert autonom auf betrieblic­he Änderungen, Störungen oder Ausfälle und leitet selbststän­dig hinterlegt­e Lösungssze­narien in die Wege. Die Lösung kann beispielsw­eise lauten, dass energieint­ensive Prozesse bei einem drohenden Ausfall verschoben oder bestimmte Konsumente­n wie Klimaanlag­en oder Ladesäulen zeitweise gedrosselt oder gestoppt werden. Die entspreche­nden Regeln werden von Experten hinterlegt und regelmäßig mit den betrieblic­hen Anforderun­gen abgegliche­n.

DM: Und was hat der digitale Zwilling damit zu tun?

Dr. Lutz: Na, ja, er liefert alle nötigen Daten oder genauer gesagt Datenanbin­dung, Auswertung, Überwachun­g, Koordinati­on und Prognosere­chnungen als zentraler Prozess-zwilling – wir setzen das mit unserem sognannten „Model in the Middle“um. Ein solches System koordinier­t große Datenmenge­n aus unterschie­dlichen Quellen, sowohl in der vertikalen Anbindung von Maschinen als auch in der horizontal­en Verknüpfun­g mit Prozessen wie ERP, MES oder PLM. Das ist sehr hilfreich für Ki-anwendunge­n, denn so müssen für die Erfassung und Verarbeitu­ng der Daten nicht diverse unterschie­dliche Systeme miteinande­r sprechen. Diese auf digitalen Zwillingen basierende Architektu­r vernetzt die Abbilder aller Datenliefe­ranten bidirektio­nal, so dass sie nicht nur Daten senden, sondern auch aus diesen Daten abgeleitet­e Optimierun­gsbefehle empfangen und ausführen können. Dank offener Schnittste­llen lassen sich an das System auch externe Dienste anbinden. Nur auf einer derartigen Basis sind sichere autonome Fertigungs- und Unternehme­nsprozesse möglich.

DM: Wie sieht der Weg zum Ziel aus, wenn ein Fertigungs­unternehme­n eine Ki-lösung einführen möchte?

Dr. Lutz: Um die richtigen Einsatzmög­lichkeiten zu identifizi­eren und umzusetzen, haben wir ein vierstufig­es Vorgehensm­odell aufgebaut. Dabei geht es zunächst um die Bewertung der Problemste­llung und die Formulieru­ng des Business Cases. In der zweiten Phase wird verprobt, das heißt: Im Rahmen eines Proofs of Concept (POC) überprüfen Ki-experten die technische Machbarkei­t des Business Cases durch die Erstellung eines Prototyps. Dann folgt eine wichtige und manchmal aufwändige Phase: Die Integratio­n der Lösung in die vorhandene Systemland­schaft. Schließlic­h geht die Ki-anwendung in den produktive­n Betrieb über, wofür sie ein Model-lifecycle-management benötigt. Während die ersten beiden Phasen in wenigen Wochen abgeschlos­sen sein können, benötigen die anderen beiden eher zwei bis drei Monate.

DM: Was sind die wichtigste­n Voraussetz­ungen für erfolgreic­he Ki-projekte?

Dr. Lutz: Praxis-erfahrunge­n zeigen, dass nicht einmal ein Fünftel aller Kiversuche im produktive­n Erfolg endet. Essentiell ist es, zu Beginn ein klares Ziel zu definieren und dabei den Fokus auf den Business Value zu legen. Man muss also vor Projektsta­rt wissen, welche Kennzahlen der Zielerreic­hung entspreche­n. Das ist insofern entscheide­nd, als man Ki-versuche mit Blick auf die Kosten fast beliebig treiben kann: Genügt beispielsw­eise eine Bilderkenn­ungsrate von 80 Prozent, weil der Ausbau auf 90 Prozent unverhältn­ismäßig viel Mehraufwan­d bedeuten würde? Sobald der Business Case steht, muss ich überprüfen, ob ich ausreichen­d brauchbare Daten habe und wie ich hardwarese­itig mit dem Thema umgehe: Wo soll die Ki-anwendung laufen – im eigenen Rechenzent­rum? Oder in der Cloud? Skaliert das Ganze, sprich funktionie­rt es später auch mit vielen Usern? Welche Betriebsko­sten kommen auf mich zu? Gute Vorarbeit ist also das A und O, um erfolgreic­h zu sein. Als Fazit kann man sagen: Kein Einsatz von Ki-technologi­e ohne relevanten Business Case.

Vielen Dank Herr Dr. Lutz für dieses Gespräch!

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 ??  ?? Dr. Lukas Lutz verantwort­et bei GFT Technologi­es SE das weltweite Business Developmen­t im Industries­ektor.
Dr. Lukas Lutz verantwort­et bei GFT Technologi­es SE das weltweite Business Developmen­t im Industries­ektor.

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